Mehr Transparenz für alle – der Schweizer Atlas der Gesundheitsversorgung

Kantonale Unterschiede in der Benzodiazepin-Abgabe. Quelle: www.versorgungsatlas.ch

Von Prof. Dr. Marc Höglinger

Das Schweizer Gesundheitswesen ist in mancher Hinsicht eine Dunkelkammer. Wie häufig und bei wem bestimmte Therapien, Eingriffe oder diagnostische Prozeduren durchgeführt werden, ist nicht einfach zu erfahren. Das gilt nicht nur für Impfungen in Zeiten der Pandemie, sondern auch für die Versorgung im Regelfall. Nun steht mit dem neuen Schweizer Atlas der Gesundheitsversorgung endlich ein Instrument zur Verfügung, das diesbezüglich mehr Transparenz schafft – und öffentlich zugänglich ist.

Über den Nutzen von Therapien und Eingriffen lässt sich trefflich – und hoffentlich evidenzbasiert – streiten. Solche Diskussionen leisten einen wichtigen Beitrag für mehr Qualität in der Versorgung. Ein essenzieller Ausgangspunkt dazu ist die Kenntnis der aktuellen Versorgungslage: Wie häufig wird ein umstrittener Eingriff aktuell durchgeführt? Wie verbreitet ist eine empfohlene Präventionsmassnahme? Wird eine neue Guideline bereits grossflächig beachtet?

Schnelle Antworten und neue Fragen

Solche und ähnliche Fragen beantwortet der Schweizer Atlas der Gesundheitsversorgung des OBSAN, der eben in einer neuen, stark erweiterten Version veröffentlicht wurde. Beispiel gefällig? Nehmen wir die Knie-Endoprothese, den Einsatz eines künstlichen Kniegelenks in Folge einer Kniearthrose oder eines Unfalls. Ein Eingriff, dessen Nutzen insbesondere für jüngere Patient:innen eher kritisch eingeschätzt und wo teilweise eine Über- oder Fehlversorgung vermutet wird. Mit einem Klick sehen wir im Versorgungsatlas, dass Knie-Endoprothesen bei unter 50-Jährigen selten sind und erst ab 60 stark zunehmen. Zwischen 2015 und 2021 stieg die Anzahl Eingriffe pro 100’000 Personen (altersstandardisiert) von 214 auf 226 – zeichnet sich hier eine Ausweitung dieses Eingriffs in der Schweiz ab?

Regionale Unterschiede – ein kniffliges Rätsel

Auffällig sind zudem die regionalen Unterschiede: das Tessin implantiert mit 158 Eingriffen pro 100’000 Personen (altersstandardisiert) am wenigsten Knieprothesen, Obwalden mit 226 am meisten. Sehen wir hier Beispiele von Unter- und Überversorgung? So einfach ist die Sache nicht: die Mechanismen, welche hinter regional unterschiedlichen Fallzahlen stecken, sind vielfältig. Dennoch sind auffällige Variationen ein guter Ausganspunkt für weiterführende Analysen. Eine Studie zu Endoprothesen konnte die regionalen Unterschiede grösstenteils nicht durch Bevölkerungsmerkmale wie Alter oder Geschlecht erklären. Allerdings auch nicht durch die Zahl der ansässigen Orthopäd:innen, was auf eine angebotsinduzierte Nachfrage hingedeutet hätte. Das Rätsel harrt also weiter seiner Lösung.

Benzodiazepine – der Rösti- ist auch ein Schlafmittelgraben

Fehlversorgung kann es auch bei der Medikation geben. Ein relevantes Beispiel sind Benzodiazepine, die primär als Schlafmittel, seltener zur Behandlung von Angststörungen eingesetzt werden. Eine längerdauernde Einnahme gilt als nicht sinnvoll und ist insbesondere bei älteren Personen mit hohen Risiken verbunden. Dennoch werden Benzodiazepine auch in der Schweiz häufig verschrieben. Der Versorgungsatlas liefert auch hier schnell ein aktuelles Bild: Zwischen 2015 und 2021 haben die verkauften Dosen um ein Viertel abgenommen. Die verstärkte Sensibilisierung für die Problematik und die Anpassung der Guidelines scheint Wirkung zu entfalten. Dennoch: Gerade bei Personen über 70 Jahren werden Benzodiazepine immer noch häufig und in grossen Mengen verschrieben. Und regional zeigen sich grosse Unterschiede: im Tessin werden mehr als doppelt so viele Dosen abgegeben wie im Schweizer Durchschnitt, auch in den meisten französischsprachigen Kantonen sind es über die Hälfe mehr – hier besteht tatsächlich Klärungsbedarf.

Variationen als Ausgangspunkt der Versorgungsforschung

Unterschiede in der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen, sog. Variationen, sei es nach Regionen oder Subgruppen innerhalb einer Population, stehen häufig am Beginn von Studien zur Versorgungsqualität: können sie durch die Altersstruktur der Bevölkerung erklärt werden? Sind sie das Ergebnis historisch gewachsener Versorgungsstrukturen? Falls ja, basieren diese auf den Präferenzen der Bevölkerung oder nicht? Führen sie zu Über-, Unter- oder Fehlversorgung? Was sind die Konsequenzen? Diesen Fragen gilt es dann nachzugehen.

Gesundheitsdaten für die Öffentlichkeit

Der Versorgungsatlas ist eine gute Bildgebung, aber noch keine Diagnose, geschweige denn Therapie. Er zeigt Auffälligkeiten auf, deren sorgfältige Analyse und Interpretation es erst noch zu leisten gilt. Unterschiede in der Gesundheitsversorgung können mannigfaltige Ursachen haben. Mit diesem Bewusstsein ist der Versorgungsatlas ein wertvolles Instrument, um Mängel und Optimierungspotential im Schweizer Gesundheitswesen eruieren zu können. Das Beste daran: er ist öffentlich zugänglich, einfach bedienbar und verständlich. Gesundheitsdaten gehören uns allen und sollten für alle nutzbar sein – der Versorgungsatlas leistet dazu einen wertvollen Beitrag.

Marc Höglinger ist Leiter Team Versorgungsforschung am WIG.


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