Von Michael Stucki
Am Dienstag fand in Winterthur der traditionelle Herbstanlass des WIG und des Netzwerks Gesundheitsökonomie Winterthur (NGW) statt. Unter dem Titel «Reality Check: Digitalisierung im Gesundheitswesen» präsentierten drei Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen ihre Sicht auf das Thema. Das Fazit ist eindeutig: die Schweiz hat bezüglich Digitalisierung im Gesundheitswesen viel aufzuholen, auch wenn die Chancen dieser Entwicklung unbestritten sind. Warum ist die Schweiz weniger weit als benachbarte Länder und welche Herausforderungen müssen auf dem Weg der Digitalisierung gemeistert werden?
Vom Können, Wollen und Dürfen
Die Schweiz ist seit Jahren Innovationsweltmeister. Dies gilt jedoch nicht, wenn es um die Digitalisierung im Gesundheitswesen geht. So zeigte Prof. Dr. Alfred Angerer des Teams Management im Gesundheitswesen am WIG auf, dass die Schweiz bei diesem Thema nicht mit vergleichbaren Ländern mithalten könne. Das liege weniger am Können, als vielmehr am Wollen. Während die technischen Möglichkeiten längst vorhanden seien, hapere es bei der Umsetzung. Ein Beispiel für den Rückstand sei die Einführung des elektronischen Patientendossiers (EPD): nur 0.1% der Bevölkerung verfügten bereits über ein solches – deutlich weniger als die über 90% in unserem Nachbarland Österreich.
Auf dem Weg hin zu einem «digitalen Frühling» seien noch viele Anstrengungen nötig, so Angerer. Die Vorteile der Digitalisierung lägen jedoch auf der Hand. Veränderungen erwartet der Forscher, der unter anderem Vorstandsmitglied im ZHAW Digital Health Lab ist, bei einzelnen Produkten, bei Interaktionen zwischen Patientinnen/Patienten und Ärztinnen/Ärzten sowie für das gesamte Netzwerk aus Leistungserbringern, z.B. in der Kommunikation.
Einblicke in die Praxis
Dr. med. Esther Wiesendanger von der Permanence in Winterthur teilte die Einschätzung ihres Vorredners zum unbefriedigenden Stand der Digitalisierung hierzulande. In den letzten Jahren habe sich jedoch einiges getan, und Corona habe den Digitalisierungsprozess vermutlich beschleunigt. Ausserdem beobachtet die Ärztin einen Generationen-Effekt, würden doch Studien zeigen, dass jüngere Leistungserbringer deutlich offener gegenüber der Digitalisierung seien.
Mit einem Einblick in ihre Praxis zeigte sie zudem auf, was alles schon möglich ist. Die rund 120 Teilnehmenden im Publikum sahen in einem Kurzfilm, wie Roboter heute die Medikamentenlogistik und -abgabe in einer modernen Praxis vereinfachen und wie QR-Codes handschriftliche Medikamentenrezepte ersetzen können. Der Nutzen für die Behandlungsqualität, Sicherheit und verbesserte Patienteneinbindung sei offensichtlich. Ob damit auch wirklich Kosten eingespart werden könnten, bezweifelt Wiesendanger jedoch.
Ein gemeinsames Verständnis schaffen
Nationalrat und Umweltnaturwissenschafter Dr. Jörg Mäder (GLP, ZH) sieht das Gesundheitswesen vor dem Wandel, und noch nicht mittendrin. In der vordigitalen, «alten» Welt habe die Schweiz zu den Besten gehört. Dies habe sie jedoch träge gemacht und in der «neuen», digitalen Welt nun ins Hintertreffen geraten lassen. Als Nationalrat und Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit forderte er in seinem Referat ein gemeinsames Verständnis von einem digitalisierten Gesundheitswesen, sozusagen eine «Allmend», auf der jeder der involvierten Player nach denselben Regeln spielt. Eine solche fehle bislang. Der Grund dafür ist für Digitalisierungsexperte Mäder klar: Keine Anspruchsgruppe sei bereits ausreichend unter Druck, etwas am Status Quo zu ändern. Und: «Machen ist wie wollen, nur krasser», so der Politiker. Man müsse für eine gemeinsame Vorstellung eines digitalen Gesundheitswesens zwingend vom verbreiteten «Gärtli-Denken» abkommen und nach einer für alle tragbaren Lösung suchen, die das Schweizer Gesundheitswesen voranbringen kann.
Intensive Diskussion
Wie schaffen wir das? Das war eine der zentralen Fragen in der anschliessenden Diskussion mit dem Publikum. «Einer muss den Anfang machen», meinte der Politiker Mäder. Wie das konkret aussehen könnte, erklärte der Forscher Angerer: In Deutschland habe man die Aufgabe der digitalen Gestaltung des Gesundheitswesens an eine eigens dafür gegründete Firma ausgelagert. Die Delegation der Lösungsfindung an eine technokratisch zusammengesetzte Expertengruppe könne auch eine Lösung sein für die Schweiz. Auf Patientenseite müsse man in Zukunft über Opt-Out-Lösungen nachdenken, bei der die Teilnahme an digitalen Lösungen, z.B. am EPD, ausdrücklich abgelehnt werden müsste. Der Nutzen eines digitalen Gesundheitswesens scheint unbestritten – der Weg dorthin ist und bleibt aber steinig. Der Herbstanlass des WIG bot entsprechend eine Gelegenheit, Wege zum «digitalen Frühling» zu ergründen. Die weitere Umsetzung dürfte noch viel Gesprächsbedarf mit sich bringen.