Von Michael Stucki und Dr. Brigitte Wirth
Im Februar 2020 erreichte die Corona-Pandemie die Schweiz: Die ersten bestätigten Fälle hierzulande und die bald darauffolgende Erklärung der Pandemie durch die Weltgesundheitsorganisation markierten den Beginn einer riesigen Herausforderung für unsere Gesundheitsversorgung. Zum einen mussten Patientinnen und Patienten mit einer bis dahin unbekannten Krankheit behandelt werden, zum anderen wollte man die breite Bevölkerung vor einer Covid-Infektion schützen. Der Bundesrat verhängte deshalb zwischen dem 16. März und dem 26. April 2020 (im «Frühlings-Lockdown») ein Verbot für «medizinisch nicht dringend angezeigte Untersuchungen und Behandlungen». Auch nach diesem verordneten sechs-wöchigen Behandlungsverbot mussten Spitäler teilweise Eingriffe verschieben, weil sie eine hohe Auslastung der Intensivstationen mit Covid-Erkrankten erwarteten.
Was bedeutete dies für die stationäre Versorgung in der Schweiz? Dieser Frage sind wir in einer kürzlich erschienenen Studie nachgegangen. In Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium Obsan haben wir die stationären Fallzahlen in der akutsomatischen Versorgung im Jahr 2020 mit denjenigen des Vorjahres verglichen.
Starker Rückgang der Fallzahlen im Lockdown
Gemäss den Zahlen der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser gab es während den sechs Wochen im Frühling 2020 99’378 akutstationäre Eintritte in Schweizer Spitäler. Dies entspricht einem Rückgang von 47’156 Fällen bzw. 32.2% gegenüber demselben Zeitraum im Jahr 2019. Der deutliche Einbruch der Fallzahlen ist in Abbildung 1 zu sehen, welche die Spital-Eintritte nach Kalenderwoche für die Jahre 2016 bis 2020 zeigt.
Aufhol-Effekt nach Lockdown blieb aus
Über das ganze erste Pandemie-Jahr gesehen gingen die Spital-Eintritte um 72’817 Fälle oder 5.8% zurück. Die Differenz zu den Vorjahres-Fallzahlen hat sich demnach nach Ende des offiziellen Behandlungsverbots sogar noch vergrössert. Ein Aufhol-Effekt war also auf Ebene der aggregierten Fallzahlen nicht zu beobachten – im Gegenteil. In Abbildung 1 ist ersichtlich, dass dies auf eine zweite Phase ab der Kalenderwoche 44 mit deutlichen geringeren Fallzahlen als in den Vorjahren zurückzuführen ist. Während der zweiten Welle ab Oktober 2020 wurden erneut weniger Behandlungen als in den Jahren 2016-2019 durchgeführt.
Stärkster Rückgang bei nicht überlebensnotwendigen Eingriffen
Stationäre Behandlungen sind unterschiedlich dringlich. Aus diesem Grund haben wir die Fallzahl-Veränderungen auch für einzelne Behandlungen in den drei Kategorien «nicht überlebensnotwendig», «mittelfristig überlebensnotwendig» und «unmittelbar überlebensnotwendig» untersucht. Bei allen Eingriffen der Kategorie «nicht überlebensnotwendig» zeigte sich ein Rückgang der Fallzahlen während des Frühlings-Lockdowns um mindestens 67%. Knieprothesen bei Arthrose-Patientinnen und -Patienten sowie Rekonstruktionen bei Hallux valgus (Fehlstellung der Grosszehe) gingen sogar um 86% zurück.
Bei den Behandlungen der beiden anderen Kategorien war der Rückgang deutlich weniger stark. Allerdings verzeichneten mehrere «unmittelbar überlebensnotwendige» Behandlungen während des Verbots «nicht dringender Behandlungen» weniger Fälle als in der Vorjahresperiode, darunter die Blinddarmentfernungen (-9%), die Schlaganfälle (-14%) sowie die schweren Myokardinfarkte (STEMI) (-9%). Während die Zahl der Blinddarmentfernungen und die Schlaganfälle per Ende 2020 auf Vorjahresniveau waren, gab es bei den Myokardinfarkten auch per Jahresende weniger Fälle als 2019. Die zukünftige Forschung wird zeigen müssen, wie dieser Rückgang von eigentlich lebensnotwendigen Behandlungen zu erklären ist. Nebst den angebotsseitigen Faktoren wie dem bundesrätlich verordneten Behandlungsverbot kommen als Erklärung auch der patientenseitige Verzicht auf eine Behandlung in Frage.
Bis Ende 2020 konnte der Rückgang bei den «nicht überlebensnotwendigen» Eingriffen nur in Einzelfällen (z.B. Knieprothesen bei Arthrose) kompensiert werden. Bei den meisten Eingriffen lagen die Fallzahlen auch Ende Jahr deutlich unter den Vorjahreszahlen. Dies lässt den Schluss zu, dass die Triage zugunsten der antizipierten Covid-19-Fälle während des Frühlings-Lockdowns 2020 und darüber hinaus funktioniert hat. Inwiefern der Behandlungsrückgang Auswirkungen auf die Gesundheit (z.B. Mortalität, Lebensqualität) der Bevölkerung hatte, werden weitere Untersuchungen zeigen müssen.
Alle Ergebnisse sowie die Details zum methodischen Vorgehen und den verwendeten Daten sind in unserer öffentlich zugänglichen Studie verfügbar.
Michael Stucki ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.
Brigitte Wirth ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team Versorgungsforschung am WIG und als Physiotherapeutin in einer Physiotherapiepraxis.