Von Melanie Schliek
Als Physiotherapeutin predige ich häufig, wie wichtig Bewegung ist, denn mit gezielten Übungen kann eine Operation oft herausgeschoben oder sogar vollständig umgangen werden. In diesem Blogbeitrag möchte ich erläutern, was aus meiner Sicht dabei zu beachten ist.
Der Patient steht im Zentrum der Therapie
Früher wurde Physiotherapie vor allem in der Rehabilitation angewandt und galt somit der Krankengymnastik. Heute wird Physiotherapie bewusst auch als präventive und gesundheitsfördernde Massnahme eingesetzt. Die aktuelle Devise lautet grundsätzlich «Aktiv statt passiv therapieren». Passive Therapien wie Massagen, Fangopackungen oder Ultraschall verschwinden immer mehr von der Bildfläche, obschon sie als Ergänzung zur aktiven Therapie oftmals sinnvoll sein können. Die Rolle der Bewegungsexpert*innen, was Physiotherapeut*innen sind, hat sich dementsprechend im Laufe der Zeit stark verändert.
Für die Patientin oder den Patienten wird eine breite Palette von Behandlungsmöglichkeiten zusammengestellt, welche individuell auf die jeweilige Problematik zugeschnitten ist – das nennen wir eine patientenzentrierte Behandlung. Dabei ist es zentral, dass Patient*innen mit ihrer Problematik ernst genommen, und die Therapie bezüglich des Behandlungstempos, Variation und Bewegungsübungen möglichst gut an die jeweiligen Bedürfnisse anpasst wird. Auch auf der persönlichen Ebene ist es wichtig, die Patient*innen dort abzuholen, wo sie gerade mit ihren Ängsten oder Unsicherheiten bezüglich der Problematik stehen und darauf einzugehen. Nicht selten kommt dies einer Gratwanderung gleich. Einerseits sollen die Patient*innen gefordert werden, anderseits sollte man sie nicht mit zu hohen Erwartungen überfordern. Gleiches gilt aus physiologischer Sicht, denn man soll verletztes Gewebe im Heilungsprozess nicht zu wenig belasten und ebenso wenig soll man es überfordern.
Eine erfolgreiche Patientenedukation ist die halbe Therapie
Das A und O ist es, die Patient*innen am Anfang und während einer Therapie gut aufzuklären, zu beraten und zu coachen – das nennen wir in der Fachsprache Patientenedukation. Man holt sie direkt mit ans Steuer und beratet, informiert, instruiert sie über das Krankheitsbild. Eine erfolgreiche Patientenedukation stärkt das Selbstmanagement der Patient*innen und macht sie zu Expert*innen auf dem Weg ihres Heilungsprozesses. Dies führt zu höheren Erfolgschancen und idealerweise zu einer nachhaltigen Verhaltensänderung. Doch dies fordert ein hohes Mass an Eigenverantwortung und Selbstbetätigung und damit auch Zeit und Geduld.
Wie stehts mit den Kosten?
Die steigende Kostenentwicklung der Physiotherapie ist ein oft diskutiertes Thema. Meine Kollegen Andreas Kohler und Michael Stucki thematisieren in ihrem Blog, dass die steigende Kostenentwicklung in den letzten Jahren alleine noch nichts darüber aussagt, ob Physiotherapie als Ressource nun gut eingesetzt wurde oder nicht. In einem Beispiel im Tagesanzeiger rechnet Hannu Luomajoki, Professor für Physiotherapie der Zürcher Fachhochschule in Winterthur nachvollziehbar vor, dass die Kosten für Physiotherapie im Vergleich zu Operationen am Knie oder an der Schulter generell deutlich tiefer sind.
Letztlich ist es entscheidend, welchen Massstab man für den Kostenvergleich nimmt. Aus einer gesundheitsökonomischen Sichtweise sagen die Kosten alleine weniger aus als die Kostenwirksamkeit. Also ob der Gesundheitsnutzen der Physiotherapie auch in einem angemessenen Verhältnis zu den Kosten steht. In vielen Fällen dürfte die Physiotherapie im Vergleich zu alternativen Behandlungen ein höheres Kosten-Nutzen-Verhältnis aufzeigen. Ausserdem geht aus dem Blog meiner Kollegen deutlich hervor, dass der Kostenvergleich oft irreführend ist und es sich bei der Kostenzunahme der Leistungen für Physiotherapie in den letzten Jahren vielmehr um eine Verschiebung der Kosten aus anderen Bereichen innerhalb des Gesundheitswesens handeln könnte.
Direktzugang zur Physiotherapie als eine der möglichen Lösungen?
Mit dem Direktzugang könnten Patient*innen ohne ärztliche Überweisung physiotherapeutische Leistungen in Anspruch nehmen, welche von der Grundversicherung bezahlt würden. In europäischen Ländern wie den Niederlanden, Finnland oder Frankreich wird dies schon heute praktiziert, vor allem im muskuloskelettalen Bereich. Luomajoki argumentiert in einem Artikel im Beobachter, dass so unnötige Operationen und teure Diagnostik umgangen und gleichzeitig Gesundheitskosten eingespart werden könnten. Vorteile für die Patient*innen wären zum Beispiel eine grössere Wahlfreiheit hinsichtlich einer Konsultation, wodurch ein schnellerer Zugang ermöglicht und somit das Selbstmanagement gestärkt wird. Zudem könnten Ärzt*innen auf diese Weise entlastet werden und hätten mehr kostbare Zeit zur Verfügung, um abzuwägen, ob eine Operation indiziert oder eher kontraindiziert ist. Leider ist es aber viel zu oft der Fall, dass zuerst operiert und erst dann Physiotherapie als Nachbehandlung verordnet wird.
Ich fasse zusammen, dass Bewegungstherapien mindestens so erfolgreich sein können wie Operationen. Wenn Sie also das nächste Mal in der Therapie sind, dann haben Sie etwas Geduld mit sich und Ihrem Körper und vergessen Sie nicht: «Bewegen, bewegen, bewegen!».
Melanie Schliek ist wissenschaftliche Assistentin im Team Versorgungsforschung am WIG und Physiotherapeutin in einer Physiotherapiepraxis.