Von Alfred Angerer
Ich wurde neulich von einer Journalistin der NZZ gefragt, was die Kosten für die Corona-Impfung wohl wären (Gesundheitsökonom: Impfaktion kostet eine halbe Milliarde). Sie hatte schon einige Expertinnen und Experten sowie Behörden abtelefoniert, aber keiner konnte es ihr sagen. Auch ich wusste die Zahl natürlich nicht und habe ihr dennoch nach 15 Minuten 500 Millionen Franken gesagt. Denn mittels eines Treiberbaums, einem klassischen Tool der BWL, kann man diese Summe gut abschätzen.
Manche würden diese Methode als Bierdeckelrechnung bezeichnen. Viel attraktiver erscheint da der Begriff Treiberbaum oder Logikbaum. Dabei geht es darum, eine unbekannte Grösse abzuschätzen. Und vor allem, welche Variablen diese Grösse stark beeinflussen, sprich die Treiber. Das ist eine klassische Übung bei Beratungsinterviews. Ich wurde beispielsweise vor vielen Jahren bei einem Interview für einen Job gefragt, wie gross der Markt für Friedhofskreuze in Deutschland sei. Das kann keiner wissen. Aber man kann sich das systematisch ableiten. Wie das geht, möchte ich am Beispiel der Impfung der Schweizer Bevölkerung darstellen.
Die Impfkosten der Schweiz aufgeschlüsselt
Zunächst überlegt man sich, welche Faktoren den gesuchten Wert wohl beeinflussen. In diesem Falle wollen wir die direkten Covid-19-Impfkosten in der Schweiz wissen. Auf der obersten Ebene ist es eigentlich ganz leicht:
Gesamtkosten Impfung = Kosten pro Impfung x Anzahl Impfungen
Sehr schnell wird man feststellen, dass manches in dieser Rechnung sich gut aufschlüsseln lässt und auf harten Fakten beruht. So wissen wir gut, wie viele Einwohner und Einwohnerinnen in der Schweiz leben. Anderes ist aber viel schwerer zu ermitteln oder man braucht eine grobe Schätzung. So weiss keiner ausserhalb des Bundes, was eine Impfdosis im Einkauf wirklich kostet. Am einfachsten ist es, eine kleine Exceltabelle zu erstellen und alle Annahmen und Quellen so gut wie möglich zu dokumentieren. Meine damals erstellte Tabelle ist hier abgebildet:
Den Treiberbaum auf Sensibilität überprüfen
Das Ergebnis lautet in unserem Baum also 500 Millionen Franken. Bei solchen Bäumen muss man immer stark runden, ansonsten täuscht man nur eine Scheingenauigkeit vor.
Die Tabelle oben ist ein schneller Schuss, um die Impfkosten grob zu bestimmen. Man kann nun versuchen, den Wert feiner zu berechnen. Dazu bietet sich eine Sensibilitätsanalyse an. Sprich, man schaut, ob sich durch das „Spielen“ an einzelnen Variablen das Gesamtergebnis stark verändern würde und es sich deswegen lohnt, diesbezüglich mehr zu recherchieren. Ich habe z.B. ziemlich grob die Logistikkosten mit 15 Prozent angegeben – eine grobe Daumenregel aus meiner Praxiszeit in der Industrie. Nun könnte man aufwändige Recherchen betreiben und feststellen, dass wegen der aufwändigen Kühlketten der echte Wert 20,4 Prozent beträgt, also viel mehr als ich geschätzt habe! Die Kosten würden in dem Fall von 505 auf 519 Millionen Franken steigen. Ich würde selbst dann immer noch bei meiner Aussage von „500 Millionen Franken Kosten“ bleiben. Das Ergebnis ist also nicht sehr sensibel auf die Variable „Logistikkosten“, weitere Recherchen sind nicht sehr dringend.
Anders sieht es aus bei dem Anteil der Impfwilligen. Wenn ich da statt 65 Prozent beispielsweise 50 Prozent annehme (was kein Mensch heute wirklich voraussagen kann und damit auch realistisch klingt), habe ich auf einmal statt 505 nur noch 388 Millionen Franken an Kosten. Da steckt also eine grosse Unsicherheit des Modells dahinter.
Den Treiberbaum richtig lesen und deuten
Der grobe Wert von 500 Millionen hilft mir schon, die direkten Impfkosten in die richtige Perspektive zu rücken. Bei 8,6 Millionen Bürgerinnen und Bürgern betragen die Kosten pro Kopf rund 60 CHF. So eine griffige Zahl kann man nun leichter deuten. Sind wir bereit für die Beendung der Pandemie unsere Staatskassen mit 60 CHF pro Person zu belasten? Meine persönliche Antwort darauf ist: Na klar! Das ist praktisch nichts im Vergleich zu all dem Leid, das wir damit verhindern können. Auch eine eiskalte Ökonomin würde zu dem gleichen Ergebnis kommen, wenn sie diese Impfkosten vergleichen würde mit den Kosten der Verluste durch die Pandemie. In der Handelszeitung behaupten Ökonominnen und Ökonomen, die Pandemie koste uns 76 Milliarden CHF durch die Reduktion des Bruttoinlandsproduktes (Bak-Prognose: Corona-Pandemie kostet Schweizer Wirtschaft 76 Milliarden). Das sind also pro Kopf 8‘840 CHF – im Vergleich dazu sind die CHF 60 nur ein Rundungsfehler.
Mich wundert das Ergebnis nicht: Wir wissen schon lange, dass jeder Franken, der in Prävention gesteckt wird, uns mehrfach zurückbezahlt wird. Und auch hier ist das Ergebnis sehr eindeutig. Jeder Franken, der in die Impfaktion gesteckt wird (und effizient verwendet wird), ist aus ökonomischer und menschlicher Sicht ein sehr gut investierter Franken.
Prof. Dr. Alfred Angerer ist Leiter der Fachstelle Management im Gesundheitswesen am WIG.
Mehr zu dem Tool Treiberbaum und anderen Werkzeugen kann im WIG-Kurs „Integrationsmodul Betriebswirtschaftslehre und Finanz- / Rechnungswesen BWL“ gelernt werden. https://www.zhaw.ch/de/sml/weiterbildung/detail/kurs/integrationsmodul-betriebswirtschaftslehre-und-finanz-rechnungswesen/
Der obere Treiberbaum kann HIER als PDF geladen werden.