
Die Aufnahme neuer Leistungen in eine soziale Krankenversicherung wie die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) ist aus gesundheitsökonomischer und sozialer Perspektive von Interesse. In einer kürzlich veröffentlichten Studie untersuchen wir die Auswirkungen der Erweiterung des OKP-Leistungskatalogs um komplementärmedizinische Leistungen auf die Kosten für die OKP und das Verhalten von Ärztinnen und Ärzten.
Erweiterung des OKP-Leistungskatalogs
Im Jahr 2012 wurde der Leistungskatalog der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) in der Schweiz massgeblich erweitert. Neu wurden bestimmte komplementärmedizinische Leistungen durch die Grundversicherung vergütet. Dazu zählen unter anderem Homöopathie, Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), Phytotherapie und Anthroposophische Medizin.
Vor der Aufnahme der komplementärmedizinischen Leistungen konnten die Patientinnen und Patienten diese Leistungen in einer Zusatzversicherung versichern oder mussten diese selbst bezahlen.
Kausaler Effekt – zwei Gruppen im Vergleich
Wir untersuchen in der Studie den kausalen oder ursächlichen Effekt dieser Erweiterung auf die Kosten in der OKP. Um diesen kausalen Effekt zu identifizieren, nutzen wir ein quasi-experimentelles Design mit einem Difference-in-Differences-Ansatz.
Konkret teilen wir die Ärztinnen und Ärzte, welche bereits vor 2012 eine anerkannte komplementärmedizinische Weiterbildung erworben haben, in die Treatmentgruppe ein. Diese Gruppe ist von der Erweiterung, d.h. dem Treatment, betroffen, da ihre komplementärmedizinischen Leistungen ab 2012 von der OKP bezahlt werden. Die Ärztinnen und Ärzte ohne komplementärmedizinische Weiterbildung teilen wir in die Kontrollgruppe ein. Sie sind von der Erweiterung nicht direkt betroffen.
Das quasi-experimentelle Design entsteht, da die Ärztinnen und Ärzte in der Treatmentgruppe bereits vor der Erweiterung des Leistungskatalogs ihre komplementärmedizinische Weiterbildung erworben haben. Dadurch ist die Zuteilung der Ärztinnen und Ärzte in die Behandlungsgruppe unabhängig vom Treatment und es entstehen keine Selektionseffekte.
Den Effekt der Erweiterung des Leistungskatalogs identifizieren wir nun, indem wir die Kosten pro Patientin und Patient in der Kontroll- und in der Treatmentgruppe jeweils vor und nach 2012 miteinander vergleichen. Dieser Difference-in-Differences-Ansatz hat auf Grund des quasi-experimentellen Designs eine kausale Interpretation.
Kosten für die OKP steigen
Abbildung 1 zeigt die Auswirkungen der Erweiterung auf die OKP-Kosten basierend auf Daten des SASIS-Datenpools, welcher 99% aller OKP-Leistungen in der Schweiz abdeckt.
Wir sehen, dass die Arztkosten pro Patientin und Patient vor Erweiterung der OKP in den beiden Gruppen parallel verlaufen, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. So rechnen Ärztinnen und Ärzte in der Treatmentgruppe bereits vor der Erweiterung im Durchschnitt höhere Kosten über die OKP ab. Bei der Erweiterung im Jahr 2012 steigen die Arztkosten pro Patientin und Patient in der Treatmentgruppe sprunghaft an (rote Linie). Basierend auf der Difference-in-Differences-Schätzung entspricht der Anstieg ca. CHF 25 oder 7 %.
Dieses Resultat zeigt, dass die Aufnahme der komplementärmedizinischen Leistungen in die OKP die Kosten in der Grundversicherung erhöht hat. Dies ist zu erwarten. Die Frage ist, ob die Ärztinnen und Ärzte ihr Verhalten angepasst haben und komplementärmedizinische Behandlungen ausgeweitet haben.

Ärztinnen und Ärzte ändern ihr Behandlungsverhalten nicht
Abbildung 2 zeigt die Auswirkungen der Erweiterung auf das Behandlungsverhalten der Ärztinnen und Ärzte. Die Abbildung zeigt die Arztkosten pro Patientin und Patient aus der Grundversicherung und Zusatzversicherung in der Treatment- und Kontrollgruppe basierend auf Daten der CSS Versicherung.
Wir sehen, dass die Arztkosten pro Patientin und Patient aus der Grundversicherung in der Treatmentgruppe (rote Linie) im Jahr 2012 in gleichem Ausmass ansteigt, wie die Arztkosten pro Patientin und Patient in der Zusatzversicherung (blaue Linie) zurückgehen. Folglich verändern sich die gesamten Arztkosten pro Patientin und Patient (d.h. Grund- plus Zusatzversicherung) in der Treatmentgruppe im Jahr 2012 (grüne Linie) nicht. Die Difference-in-Differences-Schätzung bestätigt das Resultat.
Dieses Resultat zeigt, dass die Ärztinnen und Ärzte ihre komplementärmedizinischen Behandlungen nicht ausgeweitet haben. Das kann mehrere Gründe haben. Erstens werden viele komplementärmedizinischen Leistungen in Kombination mit schuldmedizinischen Leistungen in Anspruch genommen. Zweitens scheint die Nachfrage nach komplementärmedizinischen Leistungen nicht preissensitiv zu sein, sondern stark durch Präferenzen bestimmt zu sein. Beides schränkt die Möglichkeiten der angebotsinduzierten Nachfrage und somit der Mengenausweitung ein.

Fazit
Die Aufnahme komplementärmedizinischer Leistungen in die Grundversicherung hat zu einen Anstieg der OKP-Kosten geführt aber nicht zu einer Ausweitung der Leistungen. Es hat sich in diesem Fall lediglich der Kostenträger geändert.
Allerdings widerspiegelt diese Änderung des Kostenträgers eine Verlagerung der Finanzierung aus der privaten Zusatzversicherung in die soziale Grundversicherung. Deshalb sind die Argumente für eine Aufnahme neuer Leistungen in die Grundversicherung in der politischen Diskussion sorgfältig abzuwägen.
Andreas Kohler ist Dozent und Co-Leitung Team Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.
Ko-Autoren:
Dr. rer. oec. Boris Kaiser, Senior Berater BSS Basel
Dr. Christian P.R. Schmid, Institutsleiter, CSS Institut
Die Studie ist im Mai 2025 publiziert worden und hier verfügbar:
Boris Kaiser, Andreas Kohler und Christian P.R. Schmid. The causal effects of mandatory health insurance coverage expansion in Switzerland. International Journal of Health Economics and Management. (2025).
https://link.springer.com/article/10.1007/s10754-025-09396-5
The causal effects of mandatory health insurance coverage expansion in Switzerland