
Von Cécile Grobet und Yaroslava Zemlyanska
Swissmedic ist für die Zulassung von Heilmitteln in der Schweiz verantwortlich. Die Behörde stützt sich bei der Beurteilung von Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit von Medikamenten vor allem auf randomisierte kontrollierte Studien (RCTs). Nach der Zulassung ist das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zuständig, um zu prüfen, wie gut ein Medikament im Alltag wirkt und ob es von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) vergütet werden soll. Die Ergebnisse aus RCTs lassen sich oft nicht direkt auf die reale Versorgungssituation übertragen, da solche Studien typischerweise:
- gewisse Patientengruppen ausschliessen (z.B. Schwangere)
- nur über kurze Zeiträume (meist 1 – 2 Jahre) laufen
- teuer sind und häufig als Komparator ein Scheinmedikament (Placebo) verwenden und nicht eine aktive Vergleichsbehandlung.
Das gilt nicht nur für Medikamente, sondern auch für die Diagnostik und Medizinprodukte. Zur Beurteilung der Wirksamkeit braucht es daher sogenannte «real-world evidence» (RWE), also Evidenz aus dem realen Versorgungsalltag. Aktuell fehlt im Schweizer Recht eine klare gesetzliche Grundlage für den Einbezug von RWE. Swissmedic hat zwar ein Positionspapier veröffentlicht, in dem steht, dass RWE als Ergänzung zu klinischen Studien anerkannt werden kann. Das BAG hat dazu aktuell keine eigene Richtlinie. Entscheide basieren auf der jeweils besten verfügbaren Evidenz, ohne dass spezifische Angaben hinsichtlich RWE festgelegt sind.
Was ist Real-World Evidence – und was macht sie besonders?
Der Begriff Real-World Evidence wurde durch den „21st Century Cures Act“ geprägt, den US-Präsident Barack Obama 2016 unterzeichnete. Das Gesetz anerkannte real-world data (RWD) und RWE als Unterstützung für Zulassungen und Studien nach Markteintritt. Die US-Zulassungsbehörde FDA definiert RWD als gesundheitsbezogene Daten, die im Alltag und nicht zu Forschungszwecken gesammelt werden. RWE ist die daraus generierte Evidenz.
Beispiele für RWD-Quellen:
- elektronische Patientendossiers
- Abrechnungsdaten von Versicherern
- Register zu Produkten und Krankheiten
- Daten von Patientinnen und Patienten, z. B. über Wearables
RWE soll die Lücke zwischen Wirksamkeit im Rahmen von kontrollierten, klinischen Studien und Alltagswirksamkeit schliessen – durch realitätsnähere Studien mit breiteren Einschlusskriterien, längeren Beobachtungszeiträumen und praxisnahen Bedingungen. Beobachtungsstudien haben aber auch Limitationen. Es kann z. B. zu Auswahlverzerrungen und unvollständigen oder unterschiedlich gemessenen Daten kommen. Zudem ist der sogenannte „Prevalent-User-Bias“ ein Problem, wenn Studienteilnehmende die Behandlung bereits erhalten haben.
RWE ist nicht nur auf Beobachtungsstudien beschränkt. Beispielsweise gehören auch pragmatische randomisierte Studien dazu. Diese verwenden Routinedaten, um zu zeigen, wie gut eine Intervention unter Alltagsbedingungen funktioniert. Sie haben, wie RCTs auch, Unsicherheiten, sind aber nicht grundsätzlich fehleranfälliger.
RWE in der Forschung und evidenzbasierten Entscheidungsfindung
In Ländern, wo die Zulassung zur Abrechnung über die Krankenversicherung eng mit den heilmittelrechtlichen Zulassungen verknüpft sind, kann RWE helfen, unsichere Entscheide nach erfolgter Aufnahme in den Leistungskatalog der Grundversicherung zu überprüfen. Solche Modelle heissen z. B. „Only in Research“, „Interim Funding“ oder „Coverage with Evidence Development (CED)“. In der Schweiz ist CED Teil der Umsetzung der WZW-Kriterien (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit). Wenn diese nur teilweise oder nicht klar erfüllt sind, kann CED als Empfehlung zur Vergütung aufgeführt werden. Ein Beispiel ist die pragmatische Studie SWISSspine: Mit einem Pflichtregister wurde untersucht, wie sicher, wirksam und wirtschaftlich die Bandscheibenprothese ist. Die Ergebnisse führten zur definitiven Aufnahme der Methode in die Grundversicherung.
Obwohl es internationale Leitlinien zu RWD und RWE gibt, wäre es möglicherweise sinnvoll, auch in der Schweiz Vorgaben zur Verwendung von RWD und RWE zu entwickeln. Damit wäre klar, wann und wie RWD in der Schweiz verwendet werden kann. Das hilft Forschern und Unternehmen bei der Entscheidung, ob sich die Investition in eine Datensammlung lohnt. Besonders wichtig wird das im Zusammenhang mit der EU-Verordnung 2017/745 zu Medizinprodukten, die eine Überwachung nach der Marktzulassung verlangt. Ein hilfreiches Instrument ist die Value-of-Information-Analyse. Sie hilft abzuschätzen, ob zusätzliche Forschung den Aufwand wert ist – z. B. wenn noch Unsicherheiten zu den Kosten oder zur Wirksamkeit bestehen.
Fazit
Aus unserer Sicht ist RWE zentral, um gute, evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. Sie hilft, globale ökonomische Modelle auf die Schweizer Situation zu übertragen, sinnvolle CED-Modelle zu entwickeln und Auswirkungen besser zu bewerten.
Der heutige Blogbeitrag ist inspiriert vom halbjährlichen Treffen des Schweizer Netzwerks für Health Technology Assessment (SNHTA), das am 20. Mai 2025 in Bern stattfand.
Wir freuen uns bereits auf die SNHTA-Herbstversammlung und darauf, noch mehr über die Rolle von RWE bei Vergütungsentscheiden im HTA-Prozess zu erfahren.
Cécile Grobet ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Co-Leitung HTA und gesundheitsökonomische Evaluationen am WIG.
Yaroslava Zemlyanska ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team HTA und gesundheitsökonomische Evaluationen am WIG.
Referenzen
Swissmedic. Guidance-Swissmedic position paper on the use of real world evidence. (2025). Swissmedic.
U.S. Congress. (2016). 21st Century Cures Act, Pub. L. No. 114-255, 130 Stat. 1033.
FDA. (December 2018). Framework for FDA’s Real-World Evidence Program. U.S. Food and Drug Administration.
Schluessmann et al. (2009). SWISSspine: a nationwide registry for health technology assessment of lumbar disc prostheses. European Spine Journal.
BAG. (2022). Operationalisierung der WZW-Kriterien. BAG website. P. 21
European Parliament & Council of the European Union. (2017). Regulation (EU) 2017/745 on medical devices. Official Journal of the European Union, L117, 1–175.