Von Irene Kobler, Sarah Heiniger, Andreas Jud
Trotz der weitrechenden und langanhaltenden physischen und psychischen Folgen von Kindesmisshandlungen gibt es bisher nur wenige belastbare Studien zu den Kosten von Kindesmisshandlung. Dies liegt vor allem an einem Mangel an Daten, der eine Kostenabschätzung erschwert. Gleichzeitig sind die bestehenden Studien kaum vergleichbar, da sie unterschiedliche Kostenarten im Bereich Gesundheit, Soziales und (Straf-)Justiz berücksichtigen. Dies erschwert nicht nur eine zuverlässige Kostenabschätzung, sondern behindert auch die Entwicklung von Strategien zur Prävention und Intervention.
Datenlücken: Ein zentrales Problem
Ein wesentliches Hindernis für die Erstellung von Kostenstudien ist der Mangel an verfügbaren und verknüpfbaren Daten sowohl im Gesundheitswesen als auch im Bereich Soziales und (Straf-)Justiz. Am Beispiel des Gesundheitswesens zeigt sich: Kindesmisshandlungen, die im Gesundheitsbereich entdeckt werden, sind nicht per se meldepflichtig und werden im Falle von medizinischen Behandlungen häufig nicht als solche dokumentiert oder im Rahmen von Leistungserfassungen codiert. Eine strukturierte und vollumfängliche Erfassung von Kindesmisshandlungen im medizinischen Bereich ist aber essenziell, um einen ersten Schritt hin zur Kostenberechnung machen zu können. Wie eine Studie aus Deutschland zeigt, welche auf Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenversicherer basiert, führt eine unzureichende Erfassung zu einer massiven Unterschätzung der Folgekosten von Kindesmisshandlungen (Jud et al., 2023).
Hindernisse bei der Verknüpfung von Daten
Ein Ansatz zur Verringerung der Datenlücken besteht in der Einführung von Registern. In der Schweiz erfassen die klinischen Kinderschutzgruppen von 18 Kinderkliniken systematisch vermutete oder erwiesene Kindesmisshandlungen in einem Register, womit eine Mehrheit der klinischen Fälle erfasst wird. Jedoch enthalten diese Register keine Kostendaten und können aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht post-hoc mit Daten aus der Gesundheitsversorgung verknüpft werden. Im Sozialbereich sind die Herausforderungen noch zahlreicher, da hier keine Registerdaten vorhanden sind, die einheitlich Fälle von Misshandlung dokumentieren (vgl. Optimus Study III). Die genannten Probleme bei der Datenerfassung und -Verknüpfung im Gesundheits- und im Sozialwesen führen dazu, dass eine vollständige Erfassung der Kosten über die beiden Sektoren hinweg erschwert ist.
Konsequenzen für die Praxis
Ohne valide Kostenstudien bleibt es schwierig, die ökonomischen Auswirkungen von Kindesmisshandlung zu beziffern. Dies hat Folgen für die Ressourcenplanung und -Allokation: Fehlende Daten können dazu führen, dass notwendige Mittel für Präventionsmassnahmen und Unterstützungsangebote unterfinanziert bleiben. Darüber hinaus erschwert der Mangel an umfassenden Kostenschätzungen die Argumentation für Investitionen in den Kinderschutz und präventive Programme. Nur mithilfe differenzierter Studien zu den direkten und indirekten Kosten können Hinweise gewonnen werden, in welchen Bereichen eine verstärkte Prävention besonders kosteneffizient und für die Betroffenen gewinnbringend eingesetzt werden könnte.
Der Weg nach vorn
Die Lösung dieser Problematik erfordert eine verbesserte Erfassung und Codierung von Kindesmisshandlung im Gesundheits- und Sozialwesen. Eine konkrete Massnahme wäre beispielsweise die konsequente Codierung in der stationären Gesundheitsversorgung mit Diagnosecodes aus der International Classification of Diseases (ICD). Somit könnten in einem ersten Schritt schweizweit Daten gesammelt werden, die potenziell mit Kostendaten verknüpfbar wären. In Deutschland beispielsweise werden im Rahmen der Einführung der ICD-11 unterstützende Massnahmen wie ein E-Training zur verbesserten Erfassung entwickelt (www.elearning-childprotection.de). Andererseits könnten bestehende Registerdaten, wo möglich, mit Kostendaten angereichert werden, um ein vollständigeres Bild der wirtschaftlichen Auswirkungen im Gesundheitsbereich zu erhalten.
Langfristig könnten solche Massnahmen dazu beitragen, die Entscheidungsgrundlagen für gesundheits- und sozialpolitische Massnahmen zu verbessern und so effektiver in den Schutz der Kinder zu investieren.
Erste Grundlagen für eine Kostenstudie in der Schweiz
Das Kompetenznetzwerk CYPHER der ZHAW hat eine Studie gefördert, welche sich den Herausforderungen von Kostenstudien von Kindesmisshandlungen im medizinischen Kinderschutz annahm. Aufgrund der mangelnden Datenlage näherten wir uns in der Studie den Gesundheitskosten mittels Fallszenarien an und liefern so erste Grundlagen für zukünftige Kostenstudien.
Irene Kobler und Sarah Heiniger sind wissenschaftliche Mitarbeitende im Team Versorgungsforschung am WIG.
Andreas Jud ist Professor für Epidemiologie und Verlaufsforschung im Bereich Kinderschutz an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm. Zudem ist er am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der ZHAW Soziale Arbeit tätig.