Sind Zugewanderte Schuld an den steigenden Krankenkassenprämien?

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Von Dr. oec. Andreas Kohler und Dr. Christina Vetsch-Tzogiou

Für die steigenden Krankenkassenprämien werden von der Politik verschiedene Schuldige ins Feld geführt. Von den Ärzten über die Spitäler bis hin zur Pharmaindustrie. Für die SVP ist der Fall klar: es ist die Zuwanderung, welche uns steigende Krankenkassenprämien beschert.

In diesem Blog-Beitrag gehen wir der Frage nach, ob Zugewanderte Schuld an den steigenden Prämien sind.

Die Krankenkassenprämie

Um zielführend über steigende Krankenkassenprämien zu diskutieren, ist zunächst die Berechnungsgrundlage der Krankenkassenprämie zu verstehen.

Die (aktuarisch faire) Prämie entspricht den erwarteten Kosten für Gesundheitsleistungen, welche sich in Krankheitsrisiko und Behandlungskosten (Preise und Mengen) zerlegen lassen.

Eigene Grafik

Zusätzlich fallen noch Verwaltungskosten bei den Krankenversicherern in der Höhe von ca. 5 Prozent an. Diese haben sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert.

Steigende Prämien resultieren daher aus höheren Krankheitsrisiken und/oder Behandlungskosten. Wenn Zugewanderte für steigende Krankenkassenprämien verantwortlich sein sollen, müssen sie also ein höheres Krankheitsrisiko und/oder höhere Behandlungskosten als die durchschnittlich versicherte Person haben.

Die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) funktioniert nach dem Umlageverfahren: Heute Gesunde finanzieren die Behandlungskosten heute Kranker. Gesunde Zugewanderte tragen also mit ihren Prämien zur Finanzierung der Behandlung von heute kranken Personen bei. Wenn sie im Alter (bei höherem Krankheitsrisiko und höheren Behandlungskosten) in ihre Herkunftsländer zurückkehren, entlasten sie dadurch die OKP.

Gemäss der Statistik der obligatorischen Krankenversicherung des Bundesamts für Gesundheit BAG stieg die mittlere monatliche Prämie von CHF 303 im Jahr 2012 auf CHF 373 im Jahr 2022 (+23%).

Wer gehört alles zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund?

In den Statistiken des Bundesamts für Statistik BFS können wir zwischen Asylsuchenden und der ständigen Wohnbevölkerung nach Migrationsstatus unterscheiden.

Die Zahl der Asylsuchenden verdreifachte sich zwischen 2012 und 2022 (2012:  45’000, 2022: 124’000; inklusive ca. 63’000 Personen mit vorübergehendem Schutz v.a. aus der Ukraine in 2022), ihr Anteil am Versichertenbestand blieb jedoch mit 0.5% (2012) bis 1.4% (2022) gering.

Wir stellen also als erstes fest, dass der Anstieg der Asylsuchenden um ca. 1%-Punkt von 2012 bis 2022 kaum zum Prämienanstieg von 23 % im selben Zeitraum beigetragen haben kann. Dies, obwohl Asylsuchende aufgrund ihrer Herkunft oder Flucht ein höheres Krankheitsrisiko und höhere Behandlungskosten als die restliche Bevölkerung haben dürften.

Deshalb konzentrieren wir uns in der folgenden Diskussion auf die ständige Wohnbevölkerung mit Migrationshintergrund. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Bevölkerung mit Migrationshintergrund heterogen ist.

Im Folgenden gehen wir nach der Versicherungsformel oben vor und diskutieren zuerst das Krankheitsrisiko und dann die Behandlungskosten.

Krankheitsrisiko

Das Krankheitsrisiko ist durch folgende Risikofaktoren bestimmt: Alter und Geschlecht, Verhalten, Umweltbedingungen und Zufall.

Alter und Geschlecht

Laut BFS war der Frauenanteil bei Personen mit und ohne Migrationshintergrund zwischen 2012 und 2022 ähnlich. Allerdings war die Bevölkerung mit Migrationshintergrund deutlich jünger (13% >65 Jahre vs. 26%). Hier wirkt die Zuwanderung also eher kostendämpfend. Dies wurde bereits in diesem früheren WIG-Blog-Beitrag diskutiert.

Verhalten

Das Risikoverhalten bezieht sich hier auf gesundheitsrelevante Entscheidungen wie Rauchen oder Sonnenbaden, die oft mit erhöhtem Krankheitsrisiko verbunden sind. Ein klarer Zusammenhang zwischen Verhalten und Krankheiten besteht jedoch nicht immer. Allgemein gilt Höhere Bildung verbessert die Fähigkeit zu gesundheitsbewussten Entscheidungen (Stichwort «Health Literacy»). Das Bildungsniveau der Personen mit Migrationshintergrund unterscheidet sich stark von denjenigen ohne Migrationshintergrund. Der Anteil mit obligatorischem Schulabschluss ist bei Personen mit Migrationshintergrund grösser als bei Personen ohne Migrationshintergrund (ca. 30% vs. ca. 13%). Der Anteil der Personen mit einem Abschluss auf der Tertiärstufe ist in beiden Gruppen gleich hoch (ca. 35%). Der Anteil der Personen mit Tertiärabschlüssen unter den zugewanderten Personen ist allerdings zwischen 2012 und 2022 stark angestiegen.

Während also ein grosser Teil der Zugewanderten über ein hohes Bildungsniveau verfügt, haben gleichzeitig viele ein tiefes Bildungsniveau. Es ist deshalb unklar, wie stark hier die Zuwanderung das Krankheitsrisiko durch das Verhalten und dadurch die Krankenkassenprämien beeinflusst.

Umweltbedingungen

Umweltbedingungen können einerseits die Umwelt selbst, wie z. B. Luft- oder Lärmemissionen sein, oder aber auch Bedingungen am Arbeitsplatz. Die Umwelt bezüglich Luft- oder Lärmemissionen dürften in der ganzen Schweiz vergleichbar sein. Also auch wenn sich Personen mit und ohne Migrationshintergrund

nicht gleichermassen über die Schweiz verteilen, ist es unwahrscheinlich, dass hier die Zuwanderung einen Erklärungsgehalt für die steigenden Krankenkassenprämien hat.

Zufall

Nennen wir den Teil des Krankheitsrisikos, der durch die genetische Lotterie bestimmt wird und den wir nicht erklären können, Zufall (oder Pech). Per Definition trifft der Zufall Personen mit und ohne Migrationshintergrund genau gleich oft. Er hat deshalb diesbezüglich auch keinen Erklärungsgehalt.

Behandlungskosten

Die Behandlungskosten lassen sich in Preise und Mengen zerlegen.

Preise

Da die Preise entweder zwischen den Versicherern und den Leistungserbringer verhandelt oder vom BAG festgelegt werden, haben die Versicherten keinen Einfluss darauf. Dies unabhängig davon, ob die Versicherten einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Die Preise sind für alle gleich hoch.

Mengen

Die Mengen werden durch Nachfrage und Angebot bestimmt. Die in Anspruch genommenen Mengen können genau dem medizinisch notwendigen Bedarf entsprechen. Sie können aber auch zu hoch sein, weil entweder Leistungserbringer mehr als die benötigten Leistungen anbieten oder Patienten und Patientinnen mehr als die benötigten Mengen nachfragen.

Leistungserbringer können medizinisch unnötige Behandlungen durchführen, da sie über einen Informationsvorsprung bezüglich Behandlungsmöglichkeiten verfügen, was als angebots-induzierte Nachfrage bezeichnet wird. Der Migrationshintergrund und das Bildungsniveau der Patientinnen und Patienten (d. h. «Health Literacy») könnten dabei eine Rolle spielen.

Nachfrage-induzierte Übernachfrage tritt auf, wenn bei Versicherungsdeckung die Preise ihre Signalwirkung nicht entfalten können und dies zu einer höheren Nachfrage nach Gesundheitsleistungen führt. Es gibt keinen Hinweis, dass sich Personen mit und ohne Migrationshintergrund hierbei grundsätzlich unterscheiden.

Trotzdem könnte sich das Nachfrageverhalten der Zugewanderten unterscheiden, da systemische Barrieren (z. B. Sprachprobleme, mangelndes Wissen über das Gesundheitssystem oder hohe Selbstbeteiligung an den Behandlungskosten) den Zugang zur primären Gesundheitsversorgung erschweren. So gibt es Evidenz, dass gewisse Zugewanderte beispielsweise eine geringere Wahrscheinlichkeit aufweisen, einen Arzt aufzusuchen, dafür jedoch öfter den Notfall statt den Hausarzt aufsuchen. Es wird geschätzt, dass Notfallbesuche im Durchschnitt etwa doppelt so teuer sind wie eine Konsultation in einer Arztpraxis. Allerdings fehlt hier eine Studie, welche ein umfassendes Bild liefert.

Fazit

Sind nun Zugewanderte Schuld an den steigenden Krankenkassenprämien?

Aus unserer Sicht gibt es mehr Gründe, welche diese Frage verneinen als bejahen.

Die Zuwanderung bestimmt die Entwicklung der Krankenkassenprämien hauptsächlich über die soziodemografischen Merkmale mit. Diese haben sich zwischen 2012 und 2022 eher vorteilhaft entwickelt. Die Migrationsbevölkerung in der Schweiz ist im Durchschnitt jünger und gesünder (Stichwort «Healthy Migrant Effect») als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Beides wirkt kostendämpfend.

Christina Vetsch-Tzogiou ist Co-Leitung im HTA und gesundheitsökonomische Evaluationen.
Andras Kohler ist Dozent und Co-Leitung im Team Gesundheitsökonomische Forschung.


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