Die übersehene Autismus-Spektrum-Störung bei Mädchen und Frauen

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Von Belinda Müller

In den letzten Jahren hat sich der Verdacht erhärtet, dass die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) bei Mädchen und Frauen häufig fehldiagnostiziert oder übersehen wird. ASS ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die sich durch Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion sowie durch stereotype Verhaltensmuster auszeichnet. Im Jahr 2021 betrugt die Prävalenz von ASS in der Schweiz 1,3% bei Männern und 0,5% bei Frauen (Global Burden of Disease Collaborative Network., 2024).

Warum werden Jungen und Männer häufiger mit ASS diagnostiziert?

Ein möglicher Grund für die unterschiedliche Prävalenz zwischen den Geschlechtern könnte darin liegen, dass Frauen genetisch weniger anfällig für ASS sind, was als «Female Protective Model» bezeichnet wird (Lei et al., 2019). Es gibt jedoch auch Stimmen, die argumentieren, dass ASS aufgrund von Vorurteilen in der Wahrnehmung oder Diagnosestellung oft nicht erkannt wird. Dies wird durch Studien gestützt, die nicht nur bereits diagnostizierte ASS-Betroffene einbeziehen, sondern gezielt auch nach neuen ASS-Fällen suchen: Diese Studien zeigen eine verhältnismässig höhere Prävalenz bei Mädchen/Frauen. Für die Herausforderungen bei der Diagnose von Mädchen/Frauen mit ASS werden verschiedene Gründe diskutiert:

  1. Unterschiedliche Ausprägungen von ASS: Da sich ASS über das Verhalten einer Person definiert und man es nicht anhand eines Labortests oder Ähnlichem nachweisen kann, werden Personen mit weniger prototypischen Ausprägungen der Störung weniger gut identifiziert (Ochoa-Lubinoff et al., 2023). Da die ASS-Population ohnehin sehr heterogen ist, ist es umstritten, ob ein klarer weiblicher Phänotyp der Erkrankung existiert. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass sich ASS-Symptome bei Frauen im Vergleich zu Männern unterschiedlich äussern. Mädchen und Frauen mit ASS scheinen sich stärker nach sozialer Interaktion auszurichten. Es wird auch berichtet, dass die Interessen von Mädchen mit ASS im Vergleich zu Jungen mit ASS eher mit denen ihrer gleichaltrigen Peers übereinstimmen, wie zum Beispiel Pop-Bands, Belletristik, Mode oder Prominente (Dell’Osso & Carpita, 2023).
  2. Maskieren: ASS-Betroffene scheinen Strategien anzuwenden, um ihre Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation zu kaschieren, was als Maskieren bezeichnet wird. Ein Beispiel für das Maskieren wäre, dass sich eine Person mit ASS zwingt Blickkontakt mit Gesprächspartnern aufzunehmen, auch wenn sie das als sehr unangenehm empfindet.  Obwohl beide Geschlechter diese Strategien anwenden, zeigen Studien, dass Mädchen und Frauen mit ASS häufiger darauf zurückgreifen als Jungen und Männer mit ASS (Cook et al., 2021). Dean et al. (2017) beobachteten beispielsweise, dass Mädchen mit ASS auf dem Schulhof aus der Ferne wie nicht von ASS betroffene Mädchen wirkten und ihre Beeinträchtigung erst bei genauerer Betrachtung auffiel.
  3. Vorurteile: ASS wurde lange als eine Erkrankung betrachtet, die vor allem Jungen und Männer betrifft. Daher können Unterschiede in der Diagnosestellung auf Vorurteile bei ÄrztInnen und LehrerInnen zurückzuführen sein. Beispielsweise kann es sein, dass Mädchen, die sich sozial zurückziehen, als schüchtern interpretiert werden, wohingegen das gleiche Verhalten bei Jungen bei ÄrztInnen und LehrerInnen Alarm schlägt (Ochoa-Lubinoff et al., 2023).
  4. Fehldiagnosen: Es kann sein, dass die ASS-Symptome bei Mädchen und Frauen fehlinterpretiert werden und eine Diagnose gestellt wird, welche die eigentliche ASS-Diagnose verzögert. Kentrou et al. (2021) fanden heraus, dass im niederländischen Autismus-Register bei 47% der Frauen im Vergleich zu 27% der Männer nach der ASS-Diagnose mindestens eine frühere psychiatrische Diagnose (vor allem Persönlichkeitsstörungen) nicht länger geführt wurde. Dell’Osso & Carpita (2023) vermuten, dass manche Frauen mit ASS fälschlicherweise mit Essstörungen, sozialen Phobien oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden.

Ein Umdenken scheint nötig

Eine frühzeitige Diagnose von ASS ist entscheidend für eine erfolgreiche Therapie. Laut Fuller & Kaiser (2020) haben Interventionen zur Verbesserung der sozialen Kommunikation bei Kindern mit ASS im Alter von drei bis vier Jahren die grösste Wirksamkeit. Frauen, die erst spät diagnostiziert werden, berichten häufig von sozialer Zurückweisung, Mobbing und sexuellem Missbrauch (Ochoa-Lubinoff et al., 2023). Zudem ist insbesondere das Maskieren, das verstärkt von Mädchen und Frauen gebraucht wird, mit starker kognitiver und emotionaler Anstrengung verbunden, was mitunter zu Erschöpfung und Ängsten führt (Dell’Osso et al., 2021). Viele Autoren fordern daher ein Umdenken und weitere Forschung zur Diagnose von ASS bei Mädchen und Frauen.

Belinda Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.

Verwendete Literatur

Cook, J., Hull, L., Crane, L., & Mandy, W. (2021). Camouflaging in autism: A systematic review. Clinical Psychology Review, 89, 102080. https://doi.org/10.1016/j.cpr.2021.102080

Dean, M., Harwood, R., & Kasari, C. (2017). The art of camouflage: Gender differences in the social behaviors of girls and boys with autism spectrum disorder. Autism: The International Journal of Research and Practice, 21(6), 678–689. https://doi.org/10.1177/1362361316671845

Dell’Osso, L., & Carpita, B. (2023). What misdiagnoses do women with autism spectrum disorder receive in the DSM-5? CNS spectrums, 28(3), 269–270.

Dell’Osso, L., Lorenzi, P., & Carpita, B. (2021). Camouflaging: Psychopathological meanings and clinical relevance in autism spectrum conditions. CNS Spectrums, 26(5), 437–439. https://doi.org/10.1017/S1092852920001467

Fuller, E. A., & Kaiser, A. P. (2020). The Effects of Early Intervention on Social Communication Outcomes for Children with Autism Spectrum Disorder: A Meta-analysis. Journal of Autism and Developmental Disorders, 50(5), 1683–1700. https://doi.org/10.1007/s10803-019-03927-z

Global Burden of Disease Collaborative Network. (2024). Global Burden of Disease Study 2021. Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME).

Kentrou, V., Oostervink, M., Scheeren, A. M., & Begeer, S. (2021). Stability of co-occurring psychiatric diagnoses in autistic men and women. Research in Autism Spectrum Disorders, 82, 101736. https://doi.org/10.1016/j.rasd.2021.101736

Lei, J., Lecarie, E., Jurayj, J., Boland, S., Sukhodolsky, D. G., Ventola, P., Pelphrey, K. A., & Jou, R. J. (2019). Altered Neural Connectivity in Females, But Not Males with Autism: Preliminary Evidence for the Female Protective Effect from a Quality-Controlled Diffusion Tensor Imaging Study. Autism Research, 12(10), 1472–1483. https://doi.org/10.1002/aur.2180

Lockwood Estrin, G., Milner, V., Spain, D., Happé, F., & Colvert, E. (2021). Barriers to Autism Spectrum Disorder Diagnosis for Young Women and Girls: A Systematic Review. Review Journal of Autism and Developmental Disorders, 8(4), 454–470. https://doi.org/10.1007/s40489-020-00225-8

Mahendiran, T., Brian, J., Dupuis, A., Muhe, N., Wong, P.-Y., Iaboni, A., & Anagnostou, E. (2019). Meta-Analysis of Sex Differences in Social and Communication Function in Children With Autism Spectrum Disorder and Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder. Frontiers in Psychiatry, 10, 804. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2019.00804

Ochoa-Lubinoff, C., Makol, B. A., & Dillon, E. F. (2023). Autism in Women. Neurologic Clinics, 41(2), 381–397. https://doi.org/10.1016/j.ncl.2022.10.006


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