Von Julian Schärer und David Wälti
In unserem Alltag begegnen wir zahlreichen Herausforderungen, die individuell bewältigt werden. Eine besondere Herausforderung kann bereits die Strukturierung des Alltags sein. Dies trifft insbesondere auf neurodiverse Kinder und Jugendliche zu, die häufig nach einer umfassenden Untersuchung mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) diagnostiziert werden. ADHS manifestiert sich in unterschiedlichen Formen, oft gekennzeichnet durch starken Bewegungsdrang, Konzentrationsschwierigkeiten und Impulsivität, was in verschiedenen Lebensbereichen zu erheblichem Leidensdruck führen kann. Wie unterschiedlich dabei die Versorgung bei der Behandlung von ADHS von Kindern und Jugendlichen sein kann, untersuchten Julian Schärer und David Wälti, beide Masterstudenten in Gesundheitsökonomie an der ZHAW, in einer Forschungsarbeit.
Kinder und Jugendliche mit ADHS benötigen oft mehr Betreuung, um ihre schulischen Leistungen erbringen oder gesellschaftliche Erwartungen erfüllen zu können. Medikamente wie Ritalin oder andere Methylphenidate können dabei eine zusätzliche Hilfe sein. Symptome von ADHS können in ihrer Intensität aber variieren und müssen nicht zwingend gleichzeitig auftreten. Die Ausprägung von ADHS ist unterschiedlich. Andererseits leidet nicht jedes unruhige oder unaufmerksame Kind an ADHS. Eine krankhafte Störung aufzudecken, bedingt erfahrenes Personal für die Diagnostik und Behandlung.
Interessanterweise zeigt der Versorgungsatlas des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (OBSAN) deutliche kantonale Unterschiede in der Behandlung von ADHS. Die durchschnittliche Verabreichung von Methylphenidaten bei Kindern und Jugendlichen liegt in der Schweiz bei 9.6 Defined Daily Doses (DDD, eine typische „Tagesdosis“) pro 1‘000 Einwohnern und Tag. Aber die regionalen Unterschiede sind gross: im Kanton Neuenburg liegt der Wert mit 18.6 DDD / 1‘000 Einwohnern und Tag am höchsten, während der Kanton Tessin mit 1.9 den niedrigsten Wert aufweist. Dieser Unterschied um den Faktor zehn deutet darauf hin, dass der Zugang zu Behandlung und die Verschreibung von Medikamenten je nach Wohnkanton möglicherweise unterschiedlich gehandhabt werden. Gleichzeitig ist die Tendenz zur Einnahme von Methylphenidaten steigend. In einigen Kantonen hat sich die Anzahl Ritalin-Verschreibungen von 1996 bis 2000 versiebenfacht.
Um die Gründe dieser kantonalen Unterschiede besser zu verstehen, interviewten wir im Rahmen unseres Masterstudiums Fachpersonen, die ADHS-Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen stellen und führten eine Literaturrecherche durch.
Die Literaturrecherche hat aufgezeigt, dass die kantonalen Unterschiede weniger auf demografische oder epidemiologische Faktoren zurückzuführen sind, sondern vielmehr auf unterschiedliche Behandlungsansätze und auf unterschiedlichen Zugang zu Versorgungsstrukturen. Auch Fehlanreize der Fachpersonen und eine angebotsinduzierte Erhöhung der Nachfrage können nicht ausgeschlossen werden.
Die Literaturrecherche zeigt, dass der Kanton Neuenburg, Spitzenreiter in der Verschreibung von Ritalin, bereits vor 20 Jahren umfassende Sensibilisierungsprogramme für Kinderärzt:innen, Lehrpersonal und Eltern initiierte. Damit sollen auffällige Verhaltensmuster bei Kindern frühzeitig erkannt und behandelt werden. In der Literaturrecherche hat sich gezeigt, dass Fachpersonen der Meinung sind, dass es im Kanton Neuenburg keine Überversorgung oder Übermedikation gibt, sondern dass andere Kantone eine Unterversorgung aufweisen. Diese Aussage hat sich schliesslich auch in den Interviews bestätigt. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Methylphenidate allein keine ausreichende Behandlung für Kinder und Jugendliche mit ADHS darstellen. Ergotherapie, altersgerechte Aktivitäten und der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung sind ebenfalls entscheidende Elemente einer umfassenden Versorgung.
Die Rolle der Kultur
Interessanterweise weisen beide befragten Experten, ein Kinder- und Jugendpsychiater und ein Kinderarzt, auf regionale, beziehungsweise kulturelle Unterschiede hin, welche sich auf die Versorgung auswirken. Sie beobachten im Kanton Tessin, dass eine kulturell bedingte höhere Toleranz für typisches ADHS-Verhalten zu einer geringeren Medikamentenvergabe führt. Dies zeige, wie Kultur die Wahrnehmung und Behandlung von ADHS beeinflusst.
Herausforderungen für die Versorgung
Der Kinder- und Jugendpsychiater betont auch die Bedeutung seiner Fachrichtung und warnt vor einer drohenden Unterversorgung in der Zukunft. Der Kinderarzt betont die Notwendigkeit, ADHS korrekt zu diagnostizieren und zu behandeln, um langfristige psychische Probleme zu vermeiden. Beide sind sich einig, dass Aufklärung und Akzeptanz in der Gesellschaft Schlüsselrollen spielen.
Julian Schärer und David Wälti sind Studenten des Masterstudiengangs «Health Economics & Management» an der ZHAW.