Viele Gesundheitsfachleute führen die Frage nach dem Stillen bei Neumüttern mit beinahe religiöser Vehemenz. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO versteht das Stillen nicht als Option, sondern als Norm. Erleiden «Schoppen»-Kinder tatsächlich einen gegenüber gestillten Kindern nicht mehr aufholbaren Rückstand in der körperlichen und psychischen Entwicklung? Oder handelt es sich um ein weiteres Ammenmärchen um werdende oder gewordene Mütter?
Das Stillen wird in der Schweiz nicht nur grossflächig von Gesundheitsfachleuten und in Spitälern propagiert, sondern es gibt auch diverse Organisationen, die sich dem Stillen verschreiben, wie die Stillförderung Schweiz oder La Leche League. Dazu finanziert Medela, eine Schweizer Herstellerin von Stillzubehör, über die Larsson-Rosenquist-Stiftung, sechs Forschungszentren (davon zwei an der Universität Zürich) die ausschliesslich im Bereich Muttermilch und deren öffentlichen Anerkennung tätig sind. Schliesslich werden jeder neuen Mutter drei Stillberatungen franchisefrei über die obligatorische Krankenversicherung bezahlt.
Fürs Stillen wird eine Reihe von Vorteilen wie ein tieferes Risiko für den Kindstod oder Krebserkrankungen angeführt. Über vielen Argumenten schwebt ausserdem der Eindruck, dass das Stillen nicht nur etwas Natürliches, sondern das einzige Natürliche ist. Das ist nicht falsch, nur passt das Argument nicht. Schliesslich leben wir schon lange nicht mehr in Höhlen und ernähren uns auch nicht mehr von Beeren und wilden Tieren. Unsere Umwelt, Ernährung und Lebensweise haben sich aufgrund des technologischen Fortschritts weiterentwickelt und auch dank der modernen Medizin ist unsere Lebenserwartung in den letzten Jahrhunderten stetig angestiegen. Etwas Natürliches ist also nicht zwangsläufig besser.
Wie sieht es nun aber mit der wissenschaftlichen Evidenz zum Stillen gegenüber dem Füttern von Milchpulver aus? Es gibt tatsächlich sehr viele kurzfristige positive Effekte für ein Kleinkind, das gestillt wird, wie etwa weniger Infektionen oder Magen-Darm-Störungen. Ob diese aber auch die mittel- und langfristige Entwicklung beeinflussen, ist schwierig zu messen. Grund dafür sind die schon vor der Geburt bestehenden unterschiedlichen Merkmale zwischen stillenden und nicht-stillenden Müttern (z.B. hinsichtlich Einkommen, Berufstätigkeit etc.), die wiederum einen Einfluss auf die Entwicklung eines Kleinkindes haben.
In den 1990er-Jahren wurde in Weissrussland ein Feldexperiment mit 17’000 Müttern durchgeführt, die zufällig zum Stillen ermutigt und dabei unterstützt wurden*. Durch diese Zufälligkeit (in der Fachsprache Randomisierung genannt) konnte der langfristige Effekt des Stillens unverzerrt geschätzt werden. Diese und ähnliche Studien deuten darauf hin, dass nicht-gestillte Kinder gegenüber gestillten Kindern langfristig keine körperlichen oder psychischen Nachteile erleiden. Als einziger langfristiger Effekt resultiert ein geringeres Brustkrebs-Risiko der stillenden Mutter. Milch aus der Dose ist also für die langfristige Entwicklung eines Kindes genauso gut wie die Milch von der Brust.
Es gibt eine Reihe von Gründen, die es Müttern erschwert oder verunmöglicht ihr Baby an der Brust zu füttern. In Anbetracht der logistischen Vorteile liegt man jedoch nicht falsch, einer werdenden Mutter das Stillen zu empfehlen. So können Neumütter ihr Baby zu jeder Zeit, in der richtigen Temperatur und ohne Zwischenlagerung mit Milch versorgen. Trotzdem sollte gerade in Anbetracht der Mammutaufgabe, die mit dem Grossziehen eines Kindes verbunden ist, auch ohne Druck aufs Stillen verzichten werden können. Breast ist also nicht immer best.
Christoph Thommen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter, Dozent und Co-Leiter im Team Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.
* Kramer, M. S. et al. (2001). Promotion of Breastfeeding Intervention Trial (PROBIT): a randomized trial in the Republic of Belarus. Jama, 285(4), 413-420.