Von Matthias Maurer
Das Schweizer Gesundheitswesen ist wie ein schwerer Tanker, der dringend einen Kurswechsel benötigt. Dieser Eindruck entsteht zumindest angesichts der Fülle von immer neuen Initiativen und Reformvorschlägen.
An unserem WIG-Herbstanlass vom 9. November 2021 haben wir uns deshalb mit der nautischen Kunst der Tanker-Steuerung befasst.
Mit zentralen Playern im Gesundheitswesen haben wir die Frage diskutiert: Wie können die Akteure in der Gesundheitspolitik ihren Gestaltungsspielraum vermehrt nutzen und das Gesundheitswesen auf einen gemeinsamen Kurs bringen?
Dezentrale Steuerung des Gesundheitswesens
Das Schweizer Staatswesen ist geprägt von Föderalismus und Subsidiarität, wonach die Regulierungskompetenz so niedrig wie möglich und so hoch wie nötig angesiedelt sein soll. Ganz besonders gilt diese zentrale Organisation und Steuerung für das Gesundheitswesen. Gruppenvereinbarungen der Interessenverbände spielen dabei eine zentrale Rolle (man spricht hier von «Korporatismus», der Einbindung wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Verbände in politische Entscheidungsprozesse).
Solange die Interessenverbände am gleichen Tau ziehen und solche Gruppenvereinbarungen zustande kommen, braucht es keinen Kapitän für den Tanker. Wenn sich die Interessenverbände aber nicht einigen können, kommt rasch der Ruf nach einem Kapitän. Und der Bund, insbesondere der zuständige Bundesrat und sein Eidgenössisches Departement des Innern (EDI), kommt diesem Ruf allzu gerne nach.
Am Herbstanlass hatten wir das Privileg, in einer Podiumsdiskussion mit Yvonne Gilli (fmh), Michael Jordi (GDK), Markus Trutmann (H+) sowie Pius Zängerle (curafutura) Zustand und Zukunft von Gruppenvereinbarungen zu diskutieren und dabei ihre Rolle als Interessenverbände kritisch zu beleuchten.
Korporatismus als Auslaufmodell?
Ziemlich einig war man sich, dass der bereits geschwächte Korporatismus in der traditionellen Form keine Zukunft hat und man auch nicht dorthin zurückkehren möchte. Ein Podiumsteilnehmer betitelte ihn gar als «Schönwetterprogramm»…
Das liegt zum einen an der zunehmenden Aufsplittung der Interessenverbände. Zum anderen ist es zunehmend schwierig, die Mitglieder des eigenen Interessenverbands von Gruppenvereinbarungen zu überzeugen – gar nicht erst zu verhandeln und sich abwartend passiv zu verhalten, scheint sich als eine effektive Strategie etabliert zu haben. Nicht selten übernimmt dann das Bundesverwaltungsgericht das Steuerkommando, so etwa bei den Tarifverhandlungen.
Braucht es mehr Druck?
Bei der Frage, ob zunehmender Druck förderlich oder hinderlich ist für das Gelingen von Gruppenverhandlungen war man sich nicht ganz einig. Einerseits wird der Druck von Seiten des Bundes oder auch der Medien für die Erzielung von Kompromissen als notwendig erachtet. Andererseits empfindet man die mit dem wachsenden ökonomischen Druck einher gehenden hohen Erwartungen an das Verhandlungsergebnis als kontraproduktiv für die Verhandlungen.
Paketlösungen als Ausweg?
Entscheide auf Basis von Gruppenvereinbarungen in der bisherigen Form verlangen Einstimmigkeit, damit Bund oder Kantone als Regulatoren das Ergebnis gutheissen. Die Podiumsteilnehmenden waren der Ansicht, dass das Erfordernis von Einstimmigkeit kaum mehr zu erzielen sei und dass über alternative Anforderungen an Verhandlungsergebnisse diskutiert werden müsste.
Eine mögliche Alternative wäre, dass nicht über einzelne Themen separat verhandelt würde, sondern über ganze Pakete, wo gegenseitige Kompromisse vorbestimmt sind. Als Modell könnten Koalitionsverträge von politischen Parteien dienen. Die Podiumsteilnehmenden räumten diesem Ansatz aber nur geringe Chancen ein. Die Verhandlungsthemen seien heute schon mit vielen Einzelaspekten überfrachtet und entsprechend komplex – eine weitere Erhöhung der Komplexität sei daher nicht hilfreich.
Fazit
Auch wenn es zunehmend schwierig wird: die Akteure in der Gesundheitspolitik haben nach wie vor Gestaltungsspielraum. Damit die Interessenverbände diesen Spielraum in Verhandlungen nutzen können, müssen sie in Beziehungen investieren und gegenseitiges Vertrauen aufbauen. Und es gilt, die Unsicherheit aushalten zu können, die während der oftmals mehrjährigen Verhandlungsdauer kaum zu vermeiden ist.
Matthias Maurer ist stellvertretender Institutsleiter am WIG.