Von Mélanie Stamm
Die natürliche Reaktion auf diese Frage ist wahrscheinlich, mit «gar nie» zu antworten. Nach kurzem Überlegen kommt man vielleicht zum Schluss, dass man im Idealfall dann ein akutes Herzproblem erleidet, wenn man von qualifiziertem Gesundheitspersonal und dem eventuell nötigen Equipment umgeben ist – also beispielsweise in einem Krankenhaus. Es gibt aber durchaus noch weitere, weniger offensichtliche Faktoren, welche bei dieser Frage einen Einfluss haben können. In diesem Blogbeitrag sollen zwei dieser Faktoren vorgestellt werden, die nicht ganz so offensichtlich sind – das sind Marathons und Kardiologie-Konferenzen.
Sport ist gesund und hält unser Herz fit, doch was ist der Zusammenhang zwischen einem Marathon und einem akuten Herzleiden? Interessanterweise geht es hier nicht darum, ob sich die hohe Belastung eines Marathonlaufs negativ auf das Herz auswirkt – sondern darum, ob sich das Abhalten eines Marathons in der Stadt negativ auf die Gesundheitsversorgung auswirkt. In einer US-amerikanischen Studie aus dem Jahr 2017 wurde untersucht, ob Personen, die am Tag eines Marathons wegen akuter Herzprobleme in ein Krankenhaus eingeliefert werden mussten, Verzögerungen in ihrer Behandlung erfuhren.[1] Dazu wurden Daten aus elf Städten erhoben, die grosse Marathons ausrichten, wie beispielsweise New York, Boston oder Honolulu. Die Autoren untersuchten zuerst, ob sich die Mortalität von akuten Herzpatienten mit Einlieferung am Tag des Marathons von der Mortalität von Patienten unterschied, die in den fünf Wochen vor und nach dem Marathon eingeliefert wurden. Ebenfalls interessierten sie sich für die Dauer der Fahrt im Ambulanzfahrzeug am Marathontag im Vergleich zu anderen Tagen, und am Vormittag (wenn Strassensperren üblich sind) im Vergleich zum Abend (wenn diese wieder aufgehoben sind). Ihr Resultat: Die 30-Tage-Mortalität von Herzinfarkt-Patienten an Marathon-Tagen liegt höher (28.2%) als die von Patienten an «normalen» Tagen (24.9%), und die Zeit, die im Ambulanzfahrzeug verbracht wird, ist an Marathon-Tagen um 4.4 Minuten erhöht. Die Strassenblockierungen, die zur Organisation eines solchen Marathons nötig sind, wirken sich also negativ auf die Versorgung von akuten Herzpatienten aus.
Wir wissen nun also, dass man möglichst nicht dann einen Herzinfarkt haben sollte, wenn gerade ein Marathon stattfindet. Aber wie sieht es aus mit den Tagen, an denen grosse Kardiologie-Konferenzen stattfinden?
Der wohl naheliegendste Gedankengang hier ist, dass an den Tagen, an denen sich die angesehensten Kardiologen nicht im Krankenhaus, sondern an einer Konferenz aufhalten, die Versorgung von Herzpatienten leidet. Auch dieser Frage wurde wissenschaftlich nachgegangen. Eine Studie aus dem Jahr 2015 [2] untersucht Mortalitäts- und Behandlungsmuster von akuten Herzproblemen an den Tagen der Nationalen Kardiologie-Konferenzen in den USA. Dafür wurde über mehrere Jahre die 30-Tage-Mortalität von Einlieferungen an den nationalen Konferenztagen mit der 30-Tage-Mortalität von Einlieferungen jeweils drei Wochen vor und nach der entsprechenden Konferenz verglichen.
Die Studie zeigt auf, dass die Charakteristika der Patienten, die an Konferenztagen eingeliefert werden, vergleichbar sind mit jenen von Patienten, die an nicht-Konferenztagen eingeliefert werden. Die Resultate zeigen auch, dass Hochrisikopatienten, die an einem Konferenztag in ein «teaching hospital» [3] eingeliefert werden, eine tiefere 30-Tage-Mortalitätsrate aufweisen als jene, die an einem normalen Tag eingeliefert werden. Für die anderen Krankenhäuser sowie für low-risk-Patienten in den Ausbildungskrankenhäusern konnten keine Unterschiede in der Mortalität festgestellt werden.
Gemäss dem Erstautor der Studie können die Resultate so interpretiert werden, dass auch bei akuten Herzproblemen die Devise «weniger ist mehr» gilt und daher die Abwesenheit der anerkanntesten Kardiologen eigentlich keinen negativen, wenn nicht in gewissen Fällen sogar einen positiven Effekt auf die Behandlung akuter Herzprobleme haben sollte. [4]
Da man sich den Tag eines akuten Herzproblems nicht aussuchen kann, sind diese Informationen auf individueller Ebene wohl einfach «nice to know». Auf Systemebene können und sollten diese Erkenntnisse hingegen zum Nachdenken anregen.
Mélanie Stamm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.
[1] Jena, A. B., Mann, N. C., Wedlund, L. N., & Olenski, A. (2017). Delays in emergency care and mortality during major US marathons. New England Journal of Medicine, 376(15), 1441-1450.
[2] Jena, A. B., Prasad, V., Goldman, D. P., & Romley, J. (2015). Mortality and treatment patterns among patients hospitalized with acute cardiovascular conditions during dates of national cardiology meetings. JAMA internal medicine, 175(2), 237-244.
[3] Ein «teaching hospital» in den USA entspricht ungefähr einem Universitätsspital in der Schweiz und zeichnet sich durch die Ausbildung werdender Ärzte/-innen aus.
[4] Freakonomics Radio Podcast, Episode 202, https://freakonomics.com/podcast/how-many-doctors-does-it-take-to-start-a-healthcare-revolution-a-new-freakonomics-radio-podcast/