Was ist vom neuen «Experimentierartikel» zu erwarten?

Quelle: Colourbox.de

Von Matthias Maurer

Das Parlament hat in der Schlussabstimmung vom 18. Juni 2021 zur Teilrevision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) das erste Paket mit Massnahmen zur Kostendämpfung verabschiedet. In den beiden Räten gab es viele Diskussionen zum sogenannten «Experimentierartikel». Mit diesem soll es in Zukunft möglich sein, dass innovative Pilotprojekte zur Kostendämpfung getestet werden können, selbst wenn sie von den geltenden gesetzlichen Regeln abweichen.

Was ist von diesem «Experimentierartikel» zu erwarten?

Was genau ist der «Experimentierartikel»?

Mit dem neuen Art. 59b wird im KVG im wörtlichen sowie im übertragenen Sinn ein neues Kapital aufgeschlagen. Wörtlich daher, weil im KVG ein neues Kapitel mit dem Gliederungstitel ‘Pilotprojekte zur Eindämmung der Kostenentwicklung’ eröffnet wird. Und im übertragenen Sinn wird tatsächlich Neuland betreten, indem der Bundesrat Projekte zur Eindämmung der Kostenentwicklung, zur Stärkung der Anforderungen an die Qualität oder zur Förderung der Digitalisierung in ausgewählten thematischen Bereichen bewilligen kann. In den zeitlich und räumlich begrenzten Projektvorhaben ist sicherzustellen, dass die teilnehmenden Versicherten (also die Testkaninchen…) nicht schlechter gestellt sind als die übrigen Versicherten. Zudem muss die Teilnahme freiwillig sein.

Auf welche thematische Bereiche haben sich die beiden Parlamentskammern nun einigen können?

Neben Selbstverständlichkeiten…

Im «Experimentierartikel» überwiegen diejenigen Bereiche, die inhaltlich weitgehend unbestritten sind, deren Umsetzung jedoch harzig läuft:

  • Einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS)
  • Förderung der koordinierten und integrierten Versorgung
  • Stärkung der Qualitätsanforderungen
  • Förderung der Digitalisierung

…auch umstrittene Klassiker

Die Aufnahme in den «Experimentierartikel» haben auch drei Bereiche geschafft, über deren Wirkung zur Kostendämpfung nicht nur die Gesundheitspolitikerinnen unsicher sind, sondern auch die Gesundheitsökonomen:

  • Anwendung des Naturalleistungsprinzips (Anrecht auf medizinische Leistung im Auftrag der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) anstelle der Vergütung der Kosten, also so wie dies in der obligatorischen Unfallversicherung bereits heute der Fall ist)
  • Aufweichung des Territorialitätsprinzips (Übernahme von Leistungen im Ausland)
  • Einschränkung der freien Wahl des Leistungserbringers (ausserhalb von Alternativen Versicherungsmodellen, wo dies heute schon möglich ist).

Fazit

Hat der Berg eine Maus geboren? Dies könnte man Bundesbern unterstellen, wenn man nur die aus meiner Sicht selbstverständlichen Baustellen anschaut. Hier scheinen sich Bundesrat und Parlament durch das Label «Experiment» Wunder bei der Umsetzung zu erhoffen. Mir wäre lieber gewesen, statt zu experimentieren wären gleich Nägel mit Köpfen gemacht und das KVG wäre materiell angepasst worden!

Bei den umstrittenen Klassikern sind Experimente mit offenem Ausgang hingegen gerechtfertigt. Hier weiss man heute schlicht zu wenig über Wirkung und Nebenwirkungen.

Sofern kein Referendum ergriffen wird, wovon auszugehen ist, wagt die Schweiz in diesen umstrittenen Bereichen einen erfrischend neuen Ansatz – man giesst nicht wie bisher vermeintliche Lösungsansätze in starre Gesetzesform, sondern lässt Raum für trial and error.

Matthias Maurer ist stellvertretender Institutsleiter am WIG.

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