Von Maria Carlander
Das Gesundheitswesen in der Schweiz ist im internationalen Vergleich auf Topniveau. Es gibt jedoch einige Stolpersteine, die besonders in den nächsten Jahrzenten zu einem Problem werden könnten. So sind unter anderem die Kosten im internationalen Vergleich sehr hoch und weiterhin steigend. Zudem droht in der Zukunft ein akuter Personalmangel von ärztlichen und nicht-ärztlichen Fachpersonal.
In der Grundversorgung ist die Situation besonders schwierig. Es gehen mehr Hausärztinnen und Hausärzte in Rente als neuer Nachwuchs ausgebildet wird und die traditionelle Hausarztmedizin ist für Studienabgänger nicht mehr so attraktiv wie früher. Bis 2030 wird die Hälfte der Kinderärzte in Rente gegangen sein (das Durchschnittsalter der Kinderärzte liegt bei 55 Jahren, die Kinderärztinnen sind im Schnitt acht Jahre jünger).
Schauen wir uns am Beispiel der Versorgung von Kindern näher an, was das bedeuten könnte.
Aktuell vergütet die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) insgesamt acht Vorsorgeuntersuchungen für Kinder bis zum 6. Lebensjahr. Die Fachgesellschaft Pädiatrie Schweiz empfiehlt deren 12. Diese Untersuchungen werden von Kinderärztinnen und Kinderärzten in der pädiatrischen Praxis durchgeführt. Es ist unklar, wie viele Vorsorgeuntersuchungen in der Schweiz tatsächlich in Anspruch genommen werden. Laut einer Schweizer Studie geben 96% der Eltern an, die Vorsorgeuntersuchungen im ersten Lebensjahr des Kindes in Anspruch genommen zu haben. Die KiGGs Studie aus Deutschland zeigt, dass mit zunehmendem Alter des Kindes tendenziell weniger Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch genommen werden. In einem ZHAW-Internen Forschungsprojekt untersuchen wir zurzeit die Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen in den ersten sechs Lebensjahren anhand von Krankenkassendaten.
Wenn das Geld und das Personal knapp werden, wird vermehrt auf präventive Massnahmen verzichtet. Welche Möglichkeiten gibt es also zu gewährleisten, sodass die Vorsorgeuntersuchungen auch in Zukunft durchgeführt werden können?
Basierend auf dem «Masterplan» des BAG sollen mehr Fachärztinnen und -ärzte in Allgemeinmedizin für die Grundversorgung ausgebildet werden. Wenn genügend Ärztinnen und Ärzte im Berufsleben stehen, können die Vorsorgeuntersuchungen von Kindern wie gewohnt durchgeführt werden. In Zukunft sollen auch Gruppenpraxen und Teilzeitanstellungen ermöglichen, dass jüngere Ärztinnen und Ärzte das Arbeiten in der Praxis attraktiver finden. Weniger administrative Arbeit und mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten mit einer besseren Work-Life-Balance ist angesagt.
Eine zweite Möglichkeit wäre das sogenannte Task Shifting, also das Verschieben von klassischen Aufgaben von der Ärzteschaft zu anderen Berufsgruppen – in diesem Fall zu anderen Experteninnen und Experten in Kindergesundheit, zum Beispiel zu Hebammen und speziell ausgebildeten Pflegefachpersonen. In Schweden, den USA, Australien, Grossbritannien, Finnland und in anderen Ländern mit einem hohen Einkommen wird in der Primärversorgung vermehrt auf ärztliche Gesundheitsversorgung verzichtet. Die präventiven Untersuchungen werden von ausgebildeten Fachpersonen durchgeführt, welche durch ihre Ausbildung die entsprechenden Kompetenzen haben. In Finnland werden Vorsorgeuntersuchungen hauptsächlich von nicht-ärztlichen Gesundheitsfachpersonen durchgeführt, nämlich von Public Health Nurses. Sie führen in den ersten sechs Lebensjahren eines Kindes 15 Kontrollen durch und haben jeweils mind. 60 Minuten Zeit, um ihre Kundinnen und Kunden ganzheitlich zu beraten. Zusätzlich werden fünf mind. 30-minütige ärztliche Kontrollen in den ersten sechs Lebensjahren durchgeführt. Insgesamt sind das 20 30-60-minütige Vorsorgeuntersuchungen im Vergleich zu acht 30-minütigen ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen in der Schweiz. Die Untersuchungskosten werden von der Sozialversicherung übernommen, und 99.6% der Familien nehmen diese Untersuchungen in Anspruch.
Es gibt noch keinen internationalen Konsens darüber, welches Versorgungsmodell das beste ist. Internationale Studien zeigen aber, dass mehr Zeit und regelmässige Kontrollen zu einer besseren Gesundheit eines Kindes und seiner Familie beitragen und so z.B. Spitaleintritte verhindern können. Das liegt in unserem Interesse, denn Gesundheit in der Kindheit korreliert direkt mit der psychischen, physischen und kognitiven Gesundheit im Erwachsenenalter – gute Gesundheit in jedem Alter hingegen zu tieferen Kosten im Gesundheitswesen.
Maria Carlander ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team Versorgungsforschung am WIG.