Weniger ist mehr – das Sparpotenzial aufgrund von «low-value care»

Von Michael Stucki

Das oberste Ziel eines guten Gesundheitswesens ist die qualitativ hochstehende und zweckmässige Versorgung der Bevölkerung. Allerdings sollten nur Leistungen erbracht werden, die tatsächlich von Nutzen sind. Eingriffe, diagnostische Untersuchungen und Medikamente, welche den Gesundheitszustand nicht verbessern, werden als «low-value care» bezeichnet. Auch wenn der Begriff «zero-value care» in diesem Zusammenhang noch treffender wäre, klar ist: auf diese Leistungen sollten wir verzichten.

In einer Studie für das Bundesamt für Gesundheit haben wir gezeigt, dass so Kosten von mindestens einer halben Milliarde Franken jährlich eingespart werden könnten. Für eine umfassende Schätzung des Sparpotenzials fehlen in der Schweiz aber die benötigten Daten.

Was ist «low-value care»?

Unter «low-value care» verstehen wir Leistungen, die gemäss wissenschaftlicher Evidenz nicht (oder wenig) wirksam oder sogar schädlich sind. Solche Leistungen stellen also eine Überversorgung ohne Nutzen für die Gesundheit dar. Beispiele dafür sind Darmkrebs-Früherkennungstests bei asymptomatischen Patienten, die eine Lebenserwartung von weniger als zehn Jahren und keine familiäre Vorbelastung aufweisen, oder die zu hoch dosierten Protonenpumpenblocker bei gastroösophagealen Refluxerkrankungen.

Das American Board of Internal Medicine lancierte 2012 in den USA die Kampagne «Choosing Wisely» (siehe dazu auch unseren frühere Blog-Beitrag). Viele medizinische Fachgesellschaften in den USA haben danach sogenannte Top-Listen veröffentlicht. Diese Listen enthalten fünf häufig durchgeführte Untersuchungen oder Behandlungen, die Ärzte und Patienten in Frage stellen sollten, da sie gemäss wissenschaftlicher Evidenz dem Patienten keinen Nutzen bringen oder sogar schaden. In der Schweiz veröffentlichte die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin unter dem Namen «Smarter Medicine» 2014 eine erste Top 5-Liste für den ambulanten Bereich. Mittlerweile haben viele Fachbereiche eine eigene Liste herausgegeben.

Wie viel kann durch die Beseitigung von «low-value care» eingespart werden?

In einem Umfeld stetig steigender Gesundheitsausgaben ist es wichtig, unnötige Behandlungen zu vermeiden. Dadurch kann viel Geld gespart werden, ohne auf Gesundheit verzichten zu müssen.

Die Schätzung des Sparpotenzials bei «low-value care» in der Schweiz ist allerdings sehr schwierig. Dafür fehlen schlicht die Daten. Diverse internationale Studien haben versucht, die vermeidbaren Kosten von unwirksamen Leistungen möglichst umfassend zu quantifizieren. Die meisten solcher Studien stammen aus den USA, für Europa ist die Evidenz dazu noch sehr lückenhaft. In der Schweiz existiert eine auf tatsächlichen Fallzahlen basierende Schätzung der vermeidbaren Kosten gegenwärtig nur für eine einzelne Leistung auf der «Smarter Medicine»-Liste.

Wir haben die Resultate fünf internationaler Studien konsolidiert und auf die Schweiz übertragen. Alle diese Studien konnten nur einen Teil aller bisher identifizierten unwirksamen Leistungen quantifizieren, aber ergänzten sich zumindest teilweise. Eine Studie aus Österreich identifizierte beispielsweise 1658 «low-value care»-Leistungen, von denen 450 für das Land relevant waren und von denen bei 34 eine Schätzung des Sparpotenzials gemacht werden konnte. Die Übertragung der Resultate für 63 unwirksame Leistungen auf die Schweiz resultiert in einem geschätzten jährlichen Einsparpotenzial von 537 Mio. Franken. Wenn nur die 16 Leistungen berücksichtigt werden, die auch auf der Liste von «Smarter Medicine» stehen, resultiert immer noch ein Sparpotenzial von 197 Mio. Franken.  Zum Vergleich: Die gesamten Gesundheitsausgaben in der Schweiz belaufen sich auf rund 80 Mrd. Franken pro Jahr.

Unsere Schätzungen sind mit viel Unsicherheit behaftet, da wir bei der Übertragung der Prävalenzen und Kosten einige Annahmen treffen mussten. Insgesamt gehen wir aber davon aus, dass das tatsächliche Ausmass dieser Art von Überversorgung noch deutlich höher ist, da wir nur einen sehr kleinen Teil der unnötigen Leistungen abdecken konnten. Es ist daher zu wünschen, dass in weiteren Studien mit Schweizer Daten, insbesondere zu den tatsächlichen Fallzahlen, diese Leistungen durchleuchtet werden.

Die hier vorgestellten Resultate sind dem kürzlich erschienenen Bericht zum «Effizienzpotenzial bei den KVG-pflichtigen Leistungen» entnommen. Die wichtigsten Ergebnisse dieses Projekts haben wir in einem früheren Beitrag vorgestellt.

Michael Stucki ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.


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