Von Michael Stucki
In letzter Zeit war in den Medien vermehrt über Lieferengpässe und eingeschränkte Verfügbarkeit von teilweise sehr weit verbreiteten und unverzichtbaren Medikamenten die Rede. Medikamenten-Knappheit in einem reichen Land wie der Schweiz? In einem Land, das weltweit bekannt ist für seine Pharmaindustrie? Was auf den ersten Blick überrascht, hat teilweise sehr einfache Gründe.
Kein rein schweizerisches Problem
«Knappe Medikamente lassen die Kosten explodieren», so die Befürchtung in einem SRF-Radio-Beitrag zum Thema vor wenigen Wochen, in dem auch Simon Wieser, Institutsleiter am WIG, zu Wort kam. Das Thema ist in aller Munde – nicht nur in der Schweiz. Vor einigen Tagen berichteten diverse deutsche Medien darüber. Die Zeitung WELT hatte im Oktober über Lieferengpässe beim Narkosemittel Propofol berichtet; das gängige Medikament wird bei vielen Operationen verwendet und könnte kaum ohne Nebenwirkungen für die Patienten ersetzt werden. In seiner September-Ausgabe hat die Zeitschrift Economist das Thema ebenfalls aufgegriffen und es aus Sicht der USA, Grossbritannien und Frankreich beleuchtet. Die Medikamenten-Knappheit ist nicht nur hierzulande ein akutes Problem. Naheliegende Erklärungen wie beispielsweise die kleine Grösse des Schweizer Marktes scheinen also zu kurz zu greifen. Woran liegt es, dass teilweise sehr weit verbreitete und dringend benötigte Medikamente wie Antibiotika oder Bluthochdruckmittel fehlen?
Wer hat versagt, der Markt oder der Regulator? Pharmafirmen verdienen an verbreiteten, nicht mehr patentgeschützten Medikamenten kaum etwas. Sie entscheiden sich daher oft, aus dem Markt auszusteigen, was die Anzahl der Anbieter reduziert und die Abhängigkeiten erhöht. Ausserdem wird die Produktion der Wirkstoffe vermehrt in asiatische Länder ausgelagert. Wenn dort Probleme auftreten, etwa weil Fabriken aufgrund unzulänglicher Umweltschutzmassnahmen geschlossen werden, spitzt sich die Versorgungslage weltweit zu.
Die Auswirkungen – und mögliche Lösungsansätze
Die Engpässe können zu einer schlechteren Versorgung der Patienten führen. Wenn beispielsweise wichtige Antibiotika fehlen, können bisher problemlos behandelbare Infektionen fatale Folgen haben. Der kürzlich beobachtete Lieferengpass bei einem wichtigen Epilepsie-Medikament war für Patienten einschneidend. Das Problem ist, dass eine Substitution, d.h. ein Wechsel zu einem anderen Medikament, nicht immer ohne Komplikationen möglich ist.
Die Suche nach und der Einsatz von Ersatz-Medikamenten, wenn die erste Wahl nicht zur Verfügung steht, führen zu enormen Mehrkosten in Millionen-Höhe. Das Problem ist, dass bei vielen Medikamenten nur ein Produkt zur Verfügung steht oder die Medikamente in wenigen Fabriken produziert werden. Wenn ein Teil der Produktion wegfällt, wie beispielsweise 2016 bei einem Antibiotikum nach einer Explosion in einer chinesischen Fabrik, fällt das weltweite Angebot rasch unter die Nachfrage.
Wie kriegt die Politik das Problem in den Griff? Ein Bericht aus Frankreich schlägt vor, die Produktion wieder vermehrt in Europa anzusiedeln, um die Abhängigkeit von asiatischen Fabriken zu reduzieren. Höhere Marktpreise für Generika würden die Attraktivität des Marktes erhöhen und den Pharmafirmen Anreize bieten, auch alltägliche einfache Medikamente wieder zu produzieren. Ein Exportverbot für knappe Medikamente wäre eine weitere Option; kürzlich hat Grossbritannien ein solches beschlossen. Schliesslich könnte ein Teil der Produktion quasi verstaatlicht werden. Ein kürzlich erschienener Bericht in der NZZ am Sonntag skizziert Pläne, wonach die Armeeapotheke vereinzelte knappe Wirkstoffe produzieren könnte.
Engpässe werden dokumentiert
Erfahren Sie, welche Medikamente aktuell in der Schweiz von einem Lieferengpass betroffen sind: Der Apotheker Enea Martinelli hat die Website drugshortage.ch aufgebaut, auf der die aktuellen Lieferengpässe in der Schweiz dokumentiert werden. Zurzeit sind auf der Seite 641 Medikamente aus 275 Wirkstoff-Gruppen (Stand 26. November 2019) aufgeführt. Dies ist gleichbedeutend mit einer Verdoppelung in den letzten drei Jahren.
Michael Stucki ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachstelle Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.