Von Maria Carlander
Die nordischen Länder Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark und Island werden oft als Vorbilder im Gesundheitswesen gesehen. «Die Kosten sind unter Kontrolle, die Qualität ist hochwertig und das Personal und die Patienten sind zufrieden». Auf dem Papier sieht das alles sehr schön aus, und im internationalen Vergleich werden diese Länder wohl auch weiterhin an der Spitze liegen. Aber was passiert, wenn man diese Länder von der Graswurzelebene aus der Sicht der Patienten bzw. «Konsumenten des Gesundheitswesens» betrachtet? In diesem Blogbeitrag werden ausgewählteProbleme des finnischen Gesundheitswesens, worüber in letzter Zeit in den Medien berichtet wurde, kritisch betrachtet.
1. Selbstzahlungen
Etwa 20% der Gesundheitskosten der öffentlichen Gesundheitsdienste werden «out-of-pocket» von den Patienten selber gezahlt, der Rest wird vom Staat durch Steuern finanziert. Besonders viel Geld müssen die Finnen für rezeptpflichtige Medikamente ausgeben. Im Jahr 2019 sind es maximal 572€ für Medikamente und 683€ für alle andere Krankheitskosten (kela.fi). Dieser maximale Selbstbehalt entspricht etwa 4.3% des durchschnittlichen Nettolohnes (tilastokeskus.fi). Wie die Forschung zeigt, leiden die sozioökonomisch schwächeren Gruppen häufiger unter chronischen Erkrankungen. In Finnland beträgt der Brutto-Mindestlohn ca. 1200€ pro Monat (12% der Bevölkerung, stat.fi), mit dem vollen Eigenanteil wird also rund 10% vom Jahreslohn ausgegeben. Die vergleichsmässig hohen Selbstzahlungen führen zu Ungleichheit und Unzufriedenheit bei den Patienten. Im Moment gibt es keine gute Lösung zum Problem und die Ärmsten sind oft auf Sozialschutz zugewiesen.
2. Probleme eines kleinen Markts – Medikamenten-Engpässe
Finnland ist ein Land mit etwa 5.5 Mio. Einwohnern. Dies entspricht 0.075% der Weltbevölkerung. Verschiedene Europäische Länder haben in der letzten Zeit Probleme mit Medikamentenlieferungen gehabt, z.B. wegen Schliessungen von Fabriken in Asien. Der vergleichsweise kleine Markt hat zu einem Medikamentenmangel in den finnischen Apotheken geführt, vor allem, weil es für grosse Pharmafirmen nicht lohnt, solche kleinen Märkte in einer Mangelsituation zu priorisieren. Die finnischen Pharmafirmen und Apotheken halten aus Kostengründen nicht viele Medikamente am Lager. Dies führt dazu, dass Finnland abhängig von Lieferungen aus dem Ausland ist.
Dieses Jahr gab es vor allem Mangel bei blutdrucksenkenden Medikamenten, Antidepressiva, Antibabypillen, Antibiotika und Allergie-, Schmerz- und fiebersenkenden Mitteln, aber auch bei häufig eingesetzten Medikamenten für die Behandlung von Brustkrebs. Bei vielen Patienten führen diese Mängel zur Änderung der Behandlung oder Reisen in ausländische Apotheken. Im Jahr 2010 gab es 67 Störungsmeldungen von den Apotheken, 2018 waren es über 1200 (fimea.fi).
Die Lieferungsprobleme haben zu weiteren Diskussionen zum Thema «Verstärkung der nordischen Zusammenarbeit» geführt. Eine mögliche Lösung wäre z.B. eine gemeinsame Medikamentenreserve.
3. Geographische Herausforderungen und Zentralisierung von Gesundheitsdiensten
Die finnische Bevölkerung ist geographisch ungleich verteilt. Der Grossteil wohnt im Süden, Nähe der Hauptstadt Helsinki, wo die Bevölkerungsdichte über 500 Einwohner pro Quadratkilometer beträgt. Richtung Norden und Osten sinkt die Bevölkerungsdichte, bis auf zwei Personen pro Quadratkilometer in Lappland. Auch in Finnland ist die Zentralisierung von Gesundheitsdiensten aus Kosten- und Qualitätsgründen ein Dauerthema, aber mit den langen Distanzen ist das nicht immer so optimal für die Patienten.
Die Mindestfallzahl für Geburten pro Spital wurde bei 1000 pro Jahr festgesetzt. Nur mit einer Sondergenehmigung des Gesundheitsministeriums darf ein Spital Geburten durchführen, wenn die Mindestfallzahl nicht erfüllt wird. Im Moment dürfen 23 Spitäler Gebärende annehmen, vor 20 Jahren waren es noch doppelt so viele. Dazu erfüllen sechs der 23 Spitäler die Mindestfallzahl nicht und brauchen für die nächsten ein bis zwei Jahre eine Sondergenehmigung des Gesundheitsministeriums.
Das lappländische Zentralspital in Rovaniemi (beim Polarkreis) betreut Gebärende, die bis zu 500 km weit weg wohnen. Wenn die dafür benötigte Sondergenehmigung aufgehoben werden würde, müssten die Geburten ins nächstgelegene Spital rund 200-300 km weiter entfernt verlegt werden. Das ist, wie wenn die zukünftigen Mütter aus Winterthur nach Hannover oder Wien fahren müssten.
Seit der Einführung dieser Mindestfallzahlen hat sich die Rate der ungeplanten Geburten ausserhalb des Spitales von 1 pro 1000 Geburten auf 4 pro 1000 Geburten vervierfacht.
Die langen Distanzen und die damit verbundenen Herausforderungen haben zu alternativen Versorgungsmodellen geführt, wie z.B. Hebammen im Krankenwagen und Geburtsausbildung für die Sanitäter.
4. Wartezeiten und Mangel an medizinischem Personal
In Finnland herrscht ein Ärztemangel. Die neue Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, 1000 neue Ärztinnen und Ärzte in der Primärversorgung anzustellen. Die Notaufnahmen sind wegen des Ärztemangels überfüllt, weil Patienten sich auch wegen Kleinigkeiten wie Rezepterneuerung an die Notaufnahme wenden.
Ein weiteres Thema ist die sehr schlechte Entlohnung von Pflegekräften in den nordischen Ländern – die tiefen Löhne und die stressigen Arbeitsbedingungen haben dazu geführt, dass 10% der ausgebildeten Pflegekräfte den Beruf gewechselt haben. Immer wieder führt diese Tendenz zu Schliessungen von Spitalabteilungen und einer Reduktion von Patientenbetten.
Ein positiver Aspekt ist aber die qualitativ hochstehende und innovative Ausbildung der medizinischen Fachkräfte in Finnland.
Summa summarum: viele Probleme, die wir im Schweizer Gesundheitswesen haben, sind auch in Finnland alltäglich. Das Gras ist daher nicht immer grüner auf der anderen Seite, auch wenn man sich dies gerne einbildet. Jedes Gesundheitssystem hat seine eigenen Herausforderungen und alle Länder können etwas voneinander lernen.
Maria Carlander ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fachstelle Versorgungsforschung am WIG.
Quellen: Für diesen Blogbeitrag wurden die Internetseiten der finnischen Staatszeitung hs.fi und des finnischen Rundfunks yle.fi durchsucht. Die Onlineartikel sind qualitätsmässig vergleichbar mit denen von nzz.ch und srf.ch und basieren auf neuer Forschung und Berichten von staatlichen Stellen.