Von Maria Carlander und Christina Tzogiou
Nicht alle gesundheitlichen Ungleichheiten sind per se ungerecht (Fleurbaey und Schokkaert 2012). Die Messung und Auswertung der Ungleichheiten, die in gegebenen Situationen ungerecht sind, ist eine normative Frage. Zum Beispiel spricht man von ungerechten Ungleichheiten oder so genannter Chancenungleichheit, wenn Personen mit denselben Voraussetzungen gesundheitliche Ungleichheiten aufweisen.
Wie kann die Forschung dazu beitragen, die Chancenungleichheit in der schweizerischen Gesundheitsversorgung zu senken? Was kann die Politik dafür machen?
Um diese Fragen zu beantworten hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) am 15. Oktober eine Tagung zur Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung organisiert. Bei dieser Tagung waren wichtige Akteure aus der Forschung, Praxis und Politik in der Schweiz aber auch international eingeladen. Das WIG war auch da, und berichtet in diesem Blogbeitrag über die Highlights.
Vulnerable Gruppen (z.B. Kinder, Migrationsbevölkerung, und Personen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status) sind oft von einem erhöhten Risiko inadäquater Gesundheitsversorgung betroffen. Zudem werden diese Gruppen durch Gesundheitsförderungs- und Präventionsprogramme relativ schlecht erreicht. Richard Cookson, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität York, zeigte in seinem Vortrag, dass soziale Ungleichheiten in England mit unterschiedlichen vermeidbaren Notfallaufnahmen assoziiert sind. Der Grund liegt darin, dass ärmere Menschen in England einen schlechteren Gesundheitszustand haben und auch länger krank bleiben. Er erklärte, dass dies vermieden werden könnte durch eine koordinierte Grund- und Vorsorgeversorgung, vor allem bei Menschen mit chronischen Krankheiten. Dies könnte wiederum zu einer enormen Entlastung des Gesundheitswesens und der Gesundheitskosten führen. Joachim Marti, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Lausanne, zeigte zudem, dass sich die Chancenungleichheiten in der Schweiz über die verschiedenen Kantone hinweg unterscheiden.
Zusätzlich wurden folgende Fragen diskutiert:
- Welches sind die Indikatoren, mit denen Chancenungleichheit gemessen werden kann?
- Wie werden diese Indikatoren erfasst und wie kann man den Zugang zu den Datenquellen gewährleisten?
- Was kann die Schweiz aus nationalen und internationalen Erfahrungen lernen?
- Wie kann die Forschung der Politik bei der Veränderung der Funktionsweise der Gesundheitsversorgung helfen?
Erfahrungen aus der Schweiz zeigten, dass Sprachkenntnisse und die Gesundheitskompetenzen wichtige Faktoren für den gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung sind. Dafür braucht es Richtlinien auf nationaler Ebene, sowie eine nationale Politik für die Erstattung von Übersetzungsleistungen.
Internationale Erfahrungen wiesen darauf hin, dass gezielte Massnahmen für bestimmte Gruppen erforderlich sind und dass die Chancenungleichheit in der Gesundheitsversorgung durch die Interaktion zwischen System, Patient und Anbieter bestimmt wird.
Nicht zuletzt gab es einen breiten Konsens, dass die Verringerung der Ungleichheit im Gesundheitswesen eine Frage der sozialen Gerechtigkeit ist und dass weitere Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Datenverfügbarkeit zu verbessern und Partnerschaften zwischen Forschung und Politik aufzubauen. Ein erster Schritt in dieser Richtung wäre z.B. die Einführung einer nationalen Sozialversicherungsnummer, die zur Verknüpfung von Gesundheitsdaten verwendet werden könnte.
Im WIG beschäftigen wir uns auch mit dem Thema Chancenungleichheit, insbesondere mit der Integration vulnerabler Gruppen im Gesundheitssystem.
Maria Carlander ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fachstelle Versorgungsforschung am WIG.
Christina Tzogiou ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fachstelle HTA und Gesundheitsökonomische Evaluationen am WIG.
Referenzen:
Fleurbaey, M, and E Schokkaert. 2012. ‘Equity in Health and Health Care.’ in MV; Maguire Pauly, T ; Barros, PP (ed.), Handbook of health economics.