Die Struktur der modernen Arbeitswelt verändert sich grundlegend. Der technologische Wandel führt in der Sprache der Arbeitssoziologie zu einer «Flexibilisierung der Arbeitswelt» oder einer «Entgrenzung der Arbeit». Gemeint ist damit, dass die Arbeitnehmer ständig erreichbar sind (oder glauben, es sein zu müssen) und sich deshalb mental kaum erholen können. Mittlerweile gehört arbeitsbedingter Stress zu den grössten Herausforderungen des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz. Er beeinträchtigt die Gesundheit des Einzelnen, wirkt sich aber auch negativ auf die Unternehmen aus und verursacht volkswirtschaftliche Kosten.
Dabei wird Stress wie auch viele andere seelische Gesundheitsprobleme häufig als individuelles Problem missverstanden oder stigmatisiert. Betrachtet man Stress jedoch als Risiko auf der Ebene der Organisation, kann er, wie die anderen Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz, reduziert werden. Das WIG forscht seit 2014 zusammen mit der Universität Bern zu diesem Thema. Die neusten Erkenntnisse konnten wir nun in der wissenschaftlichen Zeitschrift «The European Journal of Health Economics» veröffentlichen.
Arbeitsstress begünstigt Krankheiten
Der Klassiker: Um neun Uhr abends, beim routinemässigen Check der E-Mails, findet sich noch eine Nachricht: «Sitzung morgen eine halbe Stunde früher. Ich habe einen Fehler in deinen Berechnungen entdeckt, den wir vorab besprechen müssen. Das Management wird auch anwesend sein.» Die Amygdala, unser archaisches Alarmsystem, reagiert prompt: Es erhöht den Puls, verengt die Blutgefässe und schüttet Cortison aus. Das ist eine Stressreaktion, mit der unser Körper auf Gefahrensituationen reagiert. Er stellt Energie bereit, um eine der Reaktionen zu ermöglichen, welche sich im Rahmen der Evolution als überlebenssichernd bewährt haben: Angriff, Flucht oder Erstarrung, Dazu werden energieverbrauchende Körperprozesse unterdrückt, um die ganze Aufmerksamkeit auf die Gefahrensituation zu fokussieren. Unter diesen Umständen leidet auch die Kreativität, die biologisch praktisch ausgeschaltet wird.
Solche Stressauslöser nennt man in der Fachliteratur Stressoren oder Belastungen. Sie sind ein natürlicher Bestandteil unseres Arbeitslebens, mit denen unser Körper normalerweise umgehen kann. Die Voraussetzung dafür ist jedoch, dass ihm genügend Ressourcen, auch Bewältigungsmöglichkeiten genannt, zur Verfügung stehen. Zu den Ressourcen zählen positive Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz, wie zum Beispiel eine allgemeine Wertschätzung oder der Handlungsspielraum, den Zeitpunkt der Erledigung einer Arbeit zu bestimmen, aber auch persönliche Merkmale, wie etwa das Selbstvertrauen.
Dominieren die Stressoren die Ressourcen über längere Zeit, spricht man von arbeitsbedingtem Stress. Dieser erhöht auf Dauer das Risiko für zahlreiche Krankheiten. Das Herz verliert die Fähigkeit zwischen Anspannung und Entspannung zu wechseln; die Gefässe bleiben verengt, der Blutdruck hoch. Schlaf- und Essstörungen sind die Folge, die wiederum das Immunsystem schwächen und Diabetes, Herzinfarkt und Depressionen begünstigen. Fachleuten gemäss dauert es in der Regel vier bis sieben Jahre bis sich Arbeitsstress in einer Krankheit manifestiert.
Produktionsverluste durch Arbeitsstress nehmen zu
Die neuste Erhebung des Job-Stress-Index den das WIG zusammen mit der Universität Bern im Auftrag von Gesundheitsförderung Schweiz seit 2014 regelmässig errechnet, zeigt, dass aktuell 27,1 Prozent der Arbeitnehmenden in der Schweiz bei der Arbeit gestresst sind (siehe nachfolgende Grafik). Das heisst, bei mehr als einem Viertel überwiegen die Stressoren am Arbeitsplatz. Vor zwei Jahren waren es noch 4 Prozentpunkte oder 9 Prozent weniger. Die Produktionsverluste die den Arbeitgebern durch gestresste Arbeitnehmende entstehen schätzen wir auf rund 6.5 Mrd. Fr. pro Jahr. Diese Kosten umfassen einerseits die Einbussen, die durch gesundheitsbedingte Fehltage (Absentismus) entstehen und andererseits die gesundheitsbedingten Leistungseinbussen während der Arbeit (Präsentismus).
Ressourcenschwache Arbeitnehmende sind am stärksten von zusätzlichem Stress betroffen
Unsere kürzlich veröffentliche wissenschaftliche Studie zeigt, dass eine Veränderung in den Stressoren umso schwerer wiegt, je weniger Ressourcen (Rahmenbedingungen und persönliche Merkmale) zur Verfügung stehen. Ausserdem konnten wir nachweisen, dass eine Veränderung in den Stressoren stärker wirkt als eine Veränderung in den Ressourcen. Konkret heisst das: Wenn sich ein Stressor (z.B. Zeitdruck) permanent um einen Punkt erhöht (auf einer Skala von 1-5, z.B. von «gelegentlich» zu «eher oft»), dann müsste sich zum Ausgleich eine Ressource (z.B. Handlungsspielraum) um 2 Punkte (auf einer Skala von 1-5 z.B. von «ziemlich wenig» auf «ziemlich viel») oder zwei Ressourcen (z.B. Handlungsspielraum und Wertschätzung) um je einen Punkt erhöhen. Personen mit unterdurchschnittlicher Ausstattung in den persönlichen Ressourcen brauchen sogar noch weitere günstige Entwicklungen in den Ressourcen, um die Erhöhung eines Stressors um einen Punkt auszugleichen.
Unternehmensspezifisches Gesundheitsmanagement kann Arbeitsstress vermindern
Ein Weg, den Stress am Arbeitsplatz zu reduzieren, ist die Umsetzung der Erkenntnisse aus den bisherigen Studien im Arbeitsalltag. Die Verwendung der Ressourcen und Stressoren aus dem Job-Stress Index in unserer Studie und im Online-Erhebungstool der Gesundheitsförderung Schweiz illustriert beispielhaft das Potential der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis. Die Gesundheitsförderung Schweiz hat auf Basis des Job-Stress Index das Online-Erhebungstool «Job-Stress-Analysis» erarbeitet, Die «Job-Stress-Analysis» ermöglicht es Unternehmen, das Stressgeschehen im eigenen Betrieb zu verstehen. Sie erhalten einen detaillierten Überblick über Belastungen und Bewältigungsmöglichkeiten ihrer Mitarbeitenden. So ist es möglich, negative Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und den negativen Folgen entgegenzuwirken, indem zum Beispiel im Rahmen eines betrieblichen Gesundheitsmanagements gezielt Stressoren reduziert und Ressourcen gestärkt werden.
Beatrice Brunner ist Co-Leiterin der Fachstelle Gesundheitsökonomische Forschung , wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am WIG.
Guter Artikel zu einem sehr wichtigen Thema! Als besondere Ressource sehen wir die Zeit, beziehungsweise das persönliche Zeitmanagement. Viele Stresssituationen können auf einen chronischen Zeitmangel zurückgeführt werden. Die Zeit und wie sie investiert wird, verdient somit mehr Beachtung als ihr meistens geschenkt wird. Es gibt ja nichts Faireres als die Zeit, denn jeder Mensch hat genau 24 Stunden pro Tag. Trotzdem gelingt es einigen Führungskräften und Mitarbeitenden besser mit der Zeit umzugehen und in der gleichen Zeit und mit den gleichen Voraussetzungen unterschiedliche Resultate zu erwirken. An was liegt das? Es sollte zunächst das Bewusstsein für das eigene Verständnis von Zeit geschaffen werden. Was verstehe ich unter Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Mit welcher Zeitperiode beschäftige ich mich am meisten? Erst nachdem das eigene Bewusstsein vorhanden ist, können Zeiteinheiten besser geplant und somit das Zeitmanagement optimiert werden. Ein gutes Zeitmanagement gibt Struktur und somit Sicherheit, lässt jedoch Handlungsspielraum und Flexibilität zu. Mit einem guten Zeitmanagement lerne ich zu agieren anstelle zu reagieren.
Beste Grüsse