Durch die Spitex an Patienten angewendetes Pflegematerial muss seit 1.1.2018 nicht (mehr) von der obligatorischen Krankenversicherung (OKP) vergütet werden. Dies ist einem Rechtsstreit zwischen Versicherern und Leistungserbringern geschuldet, der im Herbst 2017 zu Präzedenzentscheiden des Bundesverwaltungsgerichts geführt hat. Die Auswirkungen sind vielschichtig und teilweise noch offen. In einem diese Woche veröffentlichten ZHAW Working Paper wird die momentane Situation beschrieben und es werden mögliche Konsequenzen aufgezeigt.
Für die einzelnen Kantone bedeutet das Urteil, dass sie als sogenannter Restfinanzierer in Zukunft mehr für die Pflege zuhause zahlen werden, was letztlich den Steuerzahler betrifft, und dass sie ein Vergütungsschema der Spitex für angewendetes Pflegematerial werden ausarbeiten müssen. Die Spitex-Dienstleister sind dadurch einem höheren finanziellen Druck ausgesetzt. Sie könnten sich deshalb gezwungen sehen, ihre Pflegepraxis anzupassen, so dass die Patienten qualitativ schlechteres (und im Einkauf billigeres) Pflegematerial erhalten, oder sogar häufiger ins Spital verwiesen werden. Daneben könnten die Spitex-Leistungserbringer reagieren, indem sie sich in grösseren Gemeinschaften organisieren, um die Preise des Pflegematerials direkt mit den Herstellern zu verhandeln. Für Intermediäre würde dies bedeuten, dass sie geringere Margen erzielen und einen kleineren Markt bedienen.
Politisch brisant ist die Situation, da eine auf den 1.1.2018 datierte Veränderung der Vergütungspraxis nicht im politischen Prozess beschlossen wurde. Sie rührt daher, dass der seit 2011 in Kraft stehende Rechtssatz stets zugunsten der Spitex missinterpretiert wurde. Dies, obwohl er nicht nur für Juristen, sondern auch umgangssprachlich verständlich formuliert ist. Die Leistungserbringer haben ihr an Patienten angewendetes Pflegematerial den Krankenkassen in Rechnung gestellt, entweder direkt oder via Intermediär, und die Kassen haben diesen Zustand geduldet und bezahlt, ohne dass der Rechtssatz (KLV) dies vorsieht.
Die nationale Exekutive in Form des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) stellt sich indes auf den Standpunkt, dass trotz des jetzigen Gerichtsentscheids kein gesundheitspolitischer Handlungsbedarf bestehe, da die nun angeschlagene Praxis ohnehin schon seit 2011 hätte gelten müssen. Die Kantone, welche gesetzlich zur Restfinanzierung verpflichtet sind, sowie der Verband Spitex Schweiz, fordern jedoch eine Erhöhung der gesetzlichen OKP-Beiträge an die Pflege bzw. eine Legalisierung des bis Ende 2017 geltenden Systems. Im National- und Ständerat sind je eine entsprechende Interpellation (Nr. 18.3393) bzw. Motion (Nr. 18.3425) seitens der SP bzw. CVP hängig. Ob diese in einer Gesetzes- bzw. Verordnungsänderung münden, wird sich allerdings frühestens ab der kommenden Wintersession 2018 zeigen.
Sollten diese Vorstösse keinen Erfolg haben, bzw. die nationale Exekutive auf eine allfällige Botschaft der Räte nicht reagieren, so ist zu bedenken, dass der kantonale Spielraum bei der Gestaltung eines Vergütungssystems zu heterogenen Lösungen führen könnte. Pauschale Beiträge der Kantone für Pflegematerial (pro Patient und Tag) hätten dabei deutlich stärkere Fehlanreize für die Leistungserbringer als differenzierte Vergütungssysteme (nach Patiententyp/Pflegematerial). Letztere Systeme wären aber für die Kantone aufwändiger in der Erarbeitung und Umsetzung. Dies könnte die Versorgung beeinflussen.
Dr. Marco Riguzzi ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachstelle Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.