Survey-Experimente mit Online-Panels, Bewegungs-Analysen mit Mobildaten, regionale Stimmungsbarometer basierend auf Twitter Tweet-Auswertungen, Netzwerkdaten von Social Network Sites, Verhaltensexperimente auf Amazon Mechanical Turk, User-Daten von Websites: Die Liste von Datenanalyse-Möglichkeiten für Sozialforscherinnen und Sozialforscher, die sich in den letzten rund 10 Jahren neu etabliert haben, liesse sich lange fortsetzen.
Die Digitalisierung, d.h. die digitale Erfassung und Repräsentation von Ereignissen, physischen Objekten und analoger Information, durchdringt nicht nur zunehmend alle Lebensbereiche, sie hat auch grosse Auswirkungen auf die Methoden der sozialwissenschaftlichen Forschung. Ob wir einen Sitzplatz im Restaurant reservieren, Informationen zur Grippeimpfung googlen, Fotos knipsen oder joggen gehen: es gibt kaum noch Dinge, welche nicht digitale Spuren hinterlassen. Was bei vielen ein ungutes Gefühl provoziert und durchaus begründete Befürchtungen hinsichtlich Persönlichkeitsschutz und Missbrauch weckt, bietet auch neue Chancen: Wir können menschliches Verhalten in einem Ausmass und einer Detailtiefe systematisch beobachten und Individuen vermessen, wie es früher nicht, nur mit grösstem Aufwand und jedenfalls nur für kleine Gruppen möglich war.
Die Forschung hat auch ganz neue Möglichkeiten, was die Durchführung experimenteller Studien anbelangt: die virtuelle Online-Welt, in der heute grosse Teile unserer Kommunikation, unseres Konsums oder unserer Freizeitgestaltung (Stichwort Fitness-Apps oder Routenplaner) stattfinden, kann von Forschenden relativ einfach verändert und die Folgen dieser Veränderungen untersucht werden: Gehen User mehr zu Fuss, wenn der Routenplaner die Menge verbrannter Kalorien bei verschiedenen Verkehrsmitteloptionen einblendet? Bewegen sie sich mehr, wenn Feedback zu den sportlichen Aktivitäten der Freunde angezeigt wird? Die potentiellen Themen für solche experimentellen Studien sind vielfältig. Und durch die Möglichkeit mittels Smartphones und Erweiterungen auch physiologische Daten wie Puls oder Herzfrequenz zu messen, ergeben sich gerade für die Gesundheitswissenschaften ungeahnte Möglichkeiten.
Soll die Forschung alle diese Möglichkeiten nutzen (dürfen)? Dass die meisten Websites, Suchmaschinen und zahlreiche Unternehmen permanent unsere digitalen Verhaltensspuren für ihre eigenen Zwecke erfassen und auswerten, ist nicht per se ein Argument dafür, dass auch öffentlich legitimierte wissenschaftliche Forschung dies tun darf. Dennoch, ohne ins Detail zu gehen und den Rahmen dieses Blogs zu sprengen: Ein dezidiertes Ja, sie darf und soll. Unter Einhaltung bestimmter Regeln, in transparenter Weise, mit Rücksicht auf individuelle Selbstbestimmung und immer unter der Voraussetzung, dass es zum Nutzen der Menschen und nicht zum Schaden der untersuchten Individuen geschieht. Wie bei aller Forschung, und mit den gestiegenen Möglichkeiten umso mehr, müssen Forscherinnen und Forscher ihre ethische Verantwortung wahrnehmen.
Tatsächlich realisiert wird das Potential der Digitalisierung aber nur, wenn Forschende in der Lage und willens sind, sich die neuen Datenquellen zu Nutze zu machen. Dazu brauchen Sozialforscherinnen und -forscher neue Fähigkeiten, aber auch eine funktionierende interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Spezialisten in «Data Science», wie sich die neue Disziplin im Schnittpunkt von Statistik und Informatik nennt.
Zudem macht es oft Sinn, digitale Daten mit «alten» Datenquellen wie z.B. Befragungen zu kombinieren. Denn digitale Verhaltensspuren, so umfangreich und scheinbar exakt sie auch sein mögen, fehlen oft relevante Informationen wie: wer ist eigentlich User XY, was sind die Motive hinter ihrem Verhalten, wie schätzt er etwas ein und welche Einstellungen hat sie? Solch wichtige Aspekte können nur mit ergänzenden Befragungen beantwortet werden.
Generell gilt: welche Daten bzw. Kombination von Daten am besten ist, hängt von der Forschungsfrage und vom Kontext ab. Gute Forscherinnen und Forscher brauchen ein breites Rüstzeug, welches ihnen grösstmögliche Flexibilität gibt, die besten Daten für ihre Analyse zu erheben. Fragebogen zu entwerfen und Interviews durchzuführen war dazu noch nie ausreichend und ist es heute noch weniger. Aber auch alleine digitale Spuren zu analysieren, reicht meist nicht. Gut zu Forschen ist definitiv komplexer und schwieriger, dafür auch nochmals spannender geworden.
Ein exzellenter (digitaler) Lesetipp zum Thema: Bit By Bit – Social Research in the Digital Age, 2018, von Matthew Salganik
Dr. Marc Höglinger, Sozialwissenschaftler, ist Versorgungsforscher am WIG. Er hat sich im Rahmen seiner Promotion intensiv mit sozialwissenschaftlicher Methodenforschung beschäftigt. Zehntausende Online-Panel-User, Survey-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer und Amazon Mechanical Turk Worker haben an seinen Experimenten und Online-Studien teilgenommen und wurden von ihm virtuell beobachtet und vermessen. Ihnen sei an dieser Stelle einmal mehr herzlich gedankt!