Prozessoptimierung kommt nicht von alleine – Die Pflicht von Führungskräften, den Wandel zu initiieren

Von Prof. Dr. Alfred Angerer

Der Gedanke, die Arbeitsprozesse zu optimieren, ist schon sehr alt. Schon vor über hundert Jahren haben sich Manager wie Henry Ford Gedanken gemacht, wie die täglichen Arbeitsabläufe zu optimieren wären. Und seit den 60er Jahren wissen wir dank Toyota, dass es unsinnig ist, dass sich nur die Manager Gedanken zur Prozessoptimierung machen. Denn wer, wenn nicht der Mitarbeitende selbst, der jeden Tag die Prozesse durchlebt, weiss am besten Bescheid, wie man noch besser arbeiten könnte? Die Optimierungsphilosophie Lean mit ihrem Fokus auf Partizipation und tägliche Optimierungen (Kaizen) war geboren.

Auch wenn wir am WIG zunehmend von einzelnen, beindruckenden Lean Projekten in Schweizer Organisationen berichten. Man könnte sich die Frage stellen: Warum ist das nicht längst eine Massenbewegung geworden? Denn die Versprechen von Lean sind zu verführerisch, um sie nicht ernst zu nehmen: Wir erhöhen gleichzeitig die Qualität und die Effizienz unserer täglichen Arbeit! Dieses gepaart mit dem wachsenden Druck im Gesundheitswesen sollte doch längst dazu geführt haben, dass in allen Schweizer Organisationen täglich an den Prozessen gearbeitet wird.

Um das Kernproblem zu verstehen, müssen wir anfangen in Systemen zu denken. All unsere Organisationen im Gesundheitswesen sind Systeme, bestehend aus Elementen, die sich gegenseitig beeinflussen. Nehmen wir als Beispiel ein Spital, das nicht gut dasteht. Die Patienten sind unglücklich mit der Leistung, die Mitarbeitenden gestresst und die ökonomischen Kennzahlen schlecht. Aus dieser Situation rauszukommen ist sehr schwer. Wie in der unteren Abbildung zu sehen ist, stecken die Mitarbeiter in einem doppelten Teufelskreis. Diese zwei sich verstärkenden Kreise sorgen dafür, dass die Qualität und die Wirtschaftlichkeit in diesem Spital auch zukünftig immer weiter abnehmen werden.

Der Teufelskreis schlechter Prozesse (eigene Darstellung).

Der Teufelskreis A («Ertrinken») sorgt dafür, dass in der Regel Mitarbeitende keine Zeit für die Optimierung ihrer Arbeitsabläufe haben. Dieses Paradoxon wird in der überspitzten Aussage «Ich ertrinke vor Arbeit, habe also keine Zeit, Schwimmen zu lernen!» gut beschrieben. Mitarbeitende sind stark mit den täglichen Aufgaben beschäftigt, die jedoch nur zu einem geringen Anteil zu ihren Kernaufgaben gehören und damit in der Regel nicht wertschöpfend sind. In einer Zeitstudie von Hendrich et al. (2008) wurden Pflegefachkräfte einen Tag lang begleitet und ihre genauen Tätigkeiten minutengenau protokolliert. Die Ergebnisse zeigen, dass die Fachkräfte nur 19 Prozent der Arbeitszeit der Patientenpflege widmen. Den Grossteil beanspruchen administrative und koordinative Aufgaben. Unsere eigenen Messungen in einem Schweizer Unispital zeigen das gleiche Bild. Assistenzärzte und Pflegende verbringen nur zwischen 17 und 29 Prozent ihrer Zeit mit der direkten Arbeit am Patienten.

Auch die Korrektur von Fehlern beansprucht viel Zeit. Seddon et al. (2011) schätzen, dass 20 bis 60 Prozent der Zeit in einem Dienstleistungsunternehmen damit verbracht wird, die gemachten Fehler wieder zu korrigieren („failure demand“). Silodenken, schlecht definierte Prozesse und fehlende Standards sorgen dafür, dass Mitarbeitende pro Tag viel arbeiten, die Produktivität des Gesamtsystems jedoch niedrig ist. Das ist der zweite Teufelskreis B, «Sisyphus» genannt, der stark demotivierend wirkt. Die Mitarbeitenden arbeiten lange und hart, trotzdem sind die Outcomes schlecht – zahlreiche Fehler werden tagtäglich produziert. Und das ist nicht Ihre Schuld, sondern die des Arbeitskontexts. Der berühmte Qualitätsexperte Edward Deming (2000) hat mal geschätzt, dass 94 Prozent der Fehler dem System gehören, und nicht dem Mitarbeitenden selbst.

Wie kommt man raus aus der doppelten Falle? Die Antwort ist einfach, wenn auch nicht schön zu hören, vor allem nicht für die Führungskräfte. Von alleine klappt das leider nicht. Man muss als Chef/Chefin einen bewussten Impuls geben. Als Führungskraft zu sagen «Macht mal Lean und optimiert euch» reicht leider nicht. Wenn eine neue Optimierungsphilosophie wie Lean eingeführt werden soll, muss investiert werden. Einerseits in das Können der Mitarbeiter (z.B. durch einen Leankurs), andererseits in das Wollen («Warum müssen wir besser werden?»), schliesslich auch in das Dürfen. Sprich die Aufgabe der Führungskräfte muss es sein, positive Rahmenbedingungen für die Optimierungsinitiative zu schaffen. Das könnte zum Beispiel bedeuten, an einem Freitagnachmittag die Mitarbeiter von den täglichen Aufgaben zu befreien und einen Verbesserungsworkshop zu gestalten (5S ist ein klassischer Einstieg). Das kostet einiges an Geld und die investierte Zeit tut weh, aber jeder BWL-Student lernt schon im ersten Semester an der Hochschule: Es gibt kein Gewinn ohne eine Investition.

Literatur:

  • Brand, T., Rüegg, K. (2016). 5S. In Angerer, A. (Ed.). (2016). LHT-BOK: Lean Healthcare Transformation – Body of Knowledge (1st ed.). Amazon-Create Space.
  • Deming, W. E. (2000). Out of the Crisis (2nd ed.). The Mit Press.
  • Hendrich, A., Chow, M. P., Skierczynski, B. A., & Lu, Z. (2008). A 36-Hospital Time and Motion Study: How Do Medical-Surgical Nurses Spend Their Time? The Permanente Journal, 12(3), 25–34.
  • Seddon, J., O’Donovan, B., & Zokaei, K. (2011). Rethinking Lean Service. In M. Macintyre, G. Parry, & J. Angelis (Eds.), Service Design and Delivery (pp. 41–60). Springer US.

Prof. Dr. Alfred Angerer ist Leiter der Fachstelle Management im Gesundheitswesen am WIG.

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