In der Regel hat der Tod am Arbeitsplatz nichts zu suchen. Trotzdem ist er immer wieder präsent, etwa wenn Mitarbeitende schwer erkranken oder ihre Angehörigen sterben. Warum es wichtig ist, diesem Tabu offen zu begegnen.
von Denise Jeitziner
Der Knoten am Hals ihrer Mitarbeiterin fiel Maren Kneisner ausgerechnet an jenem Tag auf, an dem diese neu die Verantwortung für ein ZHAW-Modul übernommen hatte. «Wir haben das feiern wollen, und beim Apéro habe ich dann diese Verdickung an ihrem Hals gesehen», erinnert sich Kneisner, Co-Leiterin des Studiengangs Ergotherapie an der ZHAW. Sie habe ihre Kollegin Cornelia Kocher Stalder ermuntert, rasch zur Ärztin zu gehen. Der Knoten am Hals der Dozentin entpuppte sich als Non-Hodgkin-Lymphom, eine bösartige Erkrankung des Lymphgewebes. Viel zu früh im Leben der zweifachen Mutter und Ehefrau.
In der Regel hat der Tod am Arbeitsplatz nichts zu suchen. Aber der Tod schert sich nicht um Regeln. Mitarbeitende erhalten zwischen Morgensitzung und Mittagspause eine lebensbedrohliche Diagnose. Die Teamleiterin stirbt am Wochenende überraschend. Der Vater, Partner oder Bruder verunglückt. Der Joballtag geht trotz Trauer, Ängsten, Perspektivlosigkeit oder Zweifeln meist weiter. Auch bei Cornelia Kocher Stalder. Nachdem sie den Krebs ein erstes Mal mit Chemo-, Hochdosis- und Stammzelltherapien hinter sich lassen konnte, kehrte sie in ihren Job zurück. Als die Krankheit ein zweites und drittes Mal auftrat ebenso, obwohl es sie enorm viel Kraft kostete.
Angst vor Stigma
Warum lässt man die Arbeit nicht hinter sich, wenn man ahnt, dass man nicht mehr lange zu leben hat? Weshalb machen Menschen dann nicht mehr nur noch das, worauf sie Lust haben? «Das habe ich mich ehrlich gesagt auch gefragt», sagt Maren Kneisner. Aber sie habe schnell gespürt, wie viel Kraft und Identität ihre Kollegin daraus zog, Teil der Berufswelt zu sein. Cornelia Kocher Stalder wollte Normalität, hatte grosse Angst vor dem Stigma am Arbeitsplatz, vor dem Verlust ihrer Rolle. «Arbeit war ein zentraler Teil meiner Identität. Ich wollte wieder für voll genommen werden.»
Diese Zeilen hielt Kocher Stalder in ihrem Buch «Kaleidoskop. Leben mit Krebs» fest – geschrieben auf ihrem Bürobett mit Kopfteil und einem Betttisch über den Beinen. Ihre Vorgesetzte habe das zum Glück verstanden und sie entsprechend unterstützt, schreibt sie. Maren Kneisner, damals ihre Vorgesetzte, sagt: «Wir haben immer wieder gemeinsam mit Cornelia geschaut, wie und in welchem Pensum wir sie integrieren können.» Es sei jedoch oft eine Gratwanderung gewesen: Wo endet die professionelle Sorge, wo beginnt die Bevormundung? «Ich habe mir explizit ihre Erlaubnis geholt, sie als Vorgesetzte schützen zu dürfen, wenn sie sich meinem Eindruck nach überlastet. Das fand ich sehr hilfreich.» Gleichzeitig sei es wichtig, die Sorgen der anderen im Team nicht zu vergessen.
Dass im Team nicht immer nur Wohlwollen und Verständnis herrscht, thematisiert Kocher Stalder ebenso in ihrem Buch. Nach ihrer Rückkehr habe es Kolleginnen gegeben, die deutlich signalisiert hätten, die Unterrichtslektionen behalten zu wollen, die sie während ihrer Abwesenheit übernommen hatten. «Das verletzte mich sehr, ich fühlte mich geschwächt. Wurde meine Krankheit benutzt, um die Karten neu zu mischen?» Maren Kneisner weiss noch, wie schwierig das für die Dozentin war. «Cornelia sorgte sich, ihre professionelle Identität als vollwertiges Teammitglied zu verlieren.» Sie habe ihr immer wieder zu vermitteln versucht, dass sie nicht ihre wertvolle Expertise verliere, wenn sie den einen oder anderen Unterricht abgeben müsse. «Wie bei einem bunten Blumenstrauss, der auch schön bleibt, wenn man die eine oder andere Blume entfernt.»
Natürlicher Umgang fällt schwer
So etwas lernt man jedoch nicht im Führungskurs. Im Gegenteil: Der Tod werde in der Gesellschaft und damit auch im Job tabuisiert und stigmatisiert. «Nur schon, dass man sich krankschreiben lassen muss, wenn man zwei Tage nach dem Verlust seines Kindes oder seiner Mutter noch nicht wieder arbeitsfähig ist, ist doch ein Fehler im System», findet Kneisner. «Und wenn wir das Thema tabuisieren, tabuisieren wir damit die Menschen, die davon betroffen sind.» Es erschwert den natürlichen Umgang, wenn man nicht weiss, wie man auf eine Person mit einer lebenslimitierenden Erkrankung wie Krebs zugehen soll – und sie deshalb meidet. Oder ihr gut gemeinte, aber überflüssige Tipps aufdrängt wie «Arbeite doch mal weniger». Oder ihr mit ungefiltertem Mitleid Energie raubt. Auch Cornelia Kocher Stalder hatte damit zu kämpfen. «Was bringt es mir, meine Leiden immer wieder neu auszuschmücken? Darüber reden hilft nicht, im Gegenteil», schreibt sie.
Bei anderen Betroffenen kann dies genau andersherum sein. Daher findet es Maren Kneisner so wichtig, die kranke Person entscheiden zu lassen, wie weit sie ihr Umfeld involvieren möchte. «Ich finde aber, dass auch im professionellen Bereich ein ‹Darf ich dich fragen, wie es dir geht?› erlaubt sein muss.» Cornelia Kocher Stalders Kolleg:innen seien dankbar gewesen, dass sie jeweils offen kommuniziert habe und sich auf das stete Abwägen und Neu-Organisieren eingelassen habe. «Wir alle sind gemeinsam gewachsen», sagt Maren Kneisner.
Das Wichtigste sind Beziehungen
Bis Cornelia Kocher Stalder eines Tages merkte, dass sie das nicht mehr will: «Es ist Abend und ich bin recht wach. Die vierte Runde meiner Krankheit ist in vollem Gang. Es hat sich etwas Zentrales verändert.» Es ist der Moment, in dem sie sich entscheidet, aus dem Berufsleben auszusteigen. Sie informiert Vorgesetzte, Kolleg:innen und Studierende per Mail. Es habe sie Stunden des Verfassens, Tage des Nachdenkens und viele Tränen gekostet, schreibt sie in ihrem Buch.
Dann spürt sie die Erleichterung. Sie, die immer Mühe gehabt habe mit dem Neinsagen, die immer versucht habe, alles unter einen Hut zu bringen, habe gelernt, zum Wichtigsten zu finden: zur Liebe. Jetzt sei es an der Zeit, nur noch durch Beziehungen zu ihrer Familie und ihren Liebsten zu existieren. «Das ist eine unendlich wertvolle Erfahrung», heisst es in «Kaleidoskop». Cornelia Kocher Stalder vertieft sich in das Schreiben über ihre Erkrankung – sowohl aus privater, als auch aus professioneller Sicht. «Sie hat all ihre Erfahrungen und Erkenntnisse sehr eindrücklich und reflektiert beschrieben», sagt Maren Kneisner.
Den Kontakt hielten die beiden Frauen in all der Zeit aufrecht. Kneisner liess sie mit Sprachnachrichten oder Fotos am beruflichen und privaten Alltag teilhaben. «Das hat Cornelia sehr viel bedeutet, sie fühlte sich sozial eingebunden, obwohl wir nicht mehr zusammengearbeitet haben.» Aus den Arbeitskolleginnen wurden Freundinnen. «Diesen Frühling konnte sie mir das fertige Buch persönlich übergeben. Es war ihr sehr wichtig, und ich bin dankbar, dass sie es geschafft hat.» Zwei Tage später starb Cornelia Kocher Stalder an den Folgen ihrer schweren Krankheit. //
Vitamin G, Seite 25-26