Nach der Geburt sind Frauen besonders anfällig für depressive Verstimmungen. Angehende Hebammen lernen im Studium am Departement Gesundheit, wie sie am besten auf psychische Probleme reagieren und betroffene Mütter unterstützen können.
VON ANDREA SÖLDI
Mia war ein Wunschkind. Die Schwangerschaft war problemlos verlaufen. «Ich freute mich auf das Baby», erzählt Barbara Müller, die wie ihr Kind eigentlich anders heisst. Doch etwa zwei Wochen nach der Geburt habe sie sich zunehmend überfordert gefühlt. «Ich weinte viel und hatte Angst, mit meiner Tochter alleine zu sein. Die Verantwortung hat mich fast erdrückt.» Dazu kam der Schlafmangel. Obwohl Mia verglichen mit anderen Babys eher wenig aufwachte in der Nacht, fühlte sich die Mutter häufig müde. Nach dem Stillen konnte sie oft nicht wieder einschlafen. «Ich hatte massive Schuldgefühle, weil ich befürchtete, das Kind leide unter meinen psychischen Problemen», blickt die 38-Jährige zurück. Das habe alles noch schlimmer gemacht.
Es war schliesslich die Mütterberaterin, die erkannte, dass Barbara Müller Hilfe brauchte. Sie ermutigte sie, sich Entlastung zu organisieren. Fortan kam ihre Mutter regelmässig vorbei und nahm ihr das Baby ab. Zudem arbeitete sie mit ihrem Partner eine Art Dienstplan aus. Sie hielten genau fest, wer wann für Mia zuständig ist. So kam die junge Mutter regelmässig zu Pausen, in denen sie spazieren gehen oder ungestört Zeitung lesen konnte. Zudem nahm sie psychologische Beratung in Anspruch.
Mehr als ein Babyblues
Psychische Probleme im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt sind keine Seltenheit. Besonders häufig ist die Wochenbettdepression – auch postnatale oder postpartale Depression genannt. Sie kommt bei 10 bis 15 Prozent aller Mütter vor – etwas häufiger als Depressionen in anderen Lebensumständen. Bei Frauen, die schon früher Erfahrungen mit Depressionen gemacht haben, ist das Risiko grösser. Das Stimmungstief macht sich im Zeitraum von zwei Wochen bis etwa sechs Monaten nach der Geburt bemerkbar. Betroffene Frauen leiden unter verschiedenen Beschwerden, unter anderen etwa Antriebslosigkeit, Erschöpfung, Leeregefühl, der Unfähigkeit, sich zu freuen, Schlafstörungen und Ängsten.
Nicht zu verwechseln ist eine postpartale Depression mit dem Babyblues, der aufgrund der hormonellen Umstellung bei rund drei Vierteln aller Frauen einige Tage nach der Geburt auftritt. Er äussert sich typischerweise durch unvermittelte Tränenausbrüche. In der Regel legt sich der Zustand innert weniger Tage von alleine wieder.
Wie alle anderen Menschen können auch Frauen in der Schwangerschaft und nach der Geburt von diversen weiteren psychischen Erkrankungen betroffen sein: Schizophrenien, Angststörungen, Manien oder Borderline-Syndrom. «Wenn Frauen die Schwangerschaft als Belastung empfinden, kann das jegliche Art psychischer Erkrankungen verstärken», sagt Katrin Oberndörfer. Die Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), diplomierte Hebamme und Psychologin hat diverse Beiträge in Büchern und Fachzeitschriften zum Thema verfasst. Sie betont: Gefährdet seien nicht nur Frauen mit Partnerschaftsproblemen oder in schwierigen sozialen und finanziellen Verhältnissen: «Es kann bei jeder Mutter passieren.»
Kind könnte Schaden nehmen
Eine psychische Erkrankung zu erkennen, sei oft nicht ganz einfach, weiss die Fachfrau. Denn besonders in der frühen Phase der Schwangerschaft ähneln deren Begleiterscheinungen jenen einer depressiven Verstimmung. Ein Grossteil der Frauen fühlt sich müde, manche auch antriebslos. Zudem kann sich eine Depression auch noch entwickeln, nachdem die regulären Wochenbettbesuche der Hebamme abgeschlossen sind.
Doch das Erkennen von psychischen Erkrankungen der Mutter ist wichtig. Denn für das ungeborene oder neugeborene Kind können die Auswirkungen weitreichend sein: In wissenschaftlichen Studien findet man Hinweise darauf, dass gesundheitliche Komplikationen während der Schwangerschaft und bei Neugeborenen im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen der Mutter gehäuft auftreten. Zudem sind Kinder von nach der Geburt depressiven Müttern stärker gefährdet, später ein hyperaktives oder aggressives Verhalten zu entwickeln oder selber an Depressionen zu erkranken. Und sie weisen tendenziell einen tieferen Intelligenzquotienten auf.
Bei der postpartalen Depression sind zudem Bindungsstörungen zum Kind häufiger als bei gesunden Müttern. Frauen mit entsprechenden Erfahrungen erzählen, dass sie ihr Baby in dieser Phase nicht lieben konnten und der kleine Mensch ihnen fremd erschien. Die damit verbundenen Schuldgefühle führen oft in eine Art Teufelskreis.
Unterstützen beim Hilfe organisieren
Umso wichtiger ist es, dass Hebammen und andere Fachpersonen gut auf entsprechende Probleme vorbereitet sind. Studentinnen des Bachelorstudiengangs Hebamme am Departement Gesundheit befassen sich deshalb bereits in den ersten beiden Semestern mit psychologischen Grundlagen, später mit Psychopathologie und Behandlungsmöglichkeiten. Sie lernen Instrumente kennen wie etwa einen Fragebogen mit Kriterien, die auf eine Depression hinweisen und den Schweregrad ermitteln. Wenn eine Wöchnerin etwa Tränen in den Augen hat, viele Fragen stellt, unsicher und bedrückt wirkt und unter Schlafstörungen leidet, obwohl das Baby mehrere Stunden am Stück schläft, sollten die Hebammen hellhörig werden.
Mit einer leichten Depression könne eine Hebamme oft alleine zurechtkommen, sagt Katrin Oberndörfer. Zum Beispiel, indem sie einfühlsam auf die Frau eingeht, sie dabei unterstützt, andere Personen um Entlastung zu bitten, und die Beziehung zum Kind fördert. Einfache Verhaltensweisen, die psychisch stabile Mütter meist intuitiv entwickeln, müssen bei depressiven Müttern manchmal angeleitet werden: etwa beim Wickeln mit dem Kind Blickkontakt zu halten und mit ihm zu sprechen. Hebammen können zudem anbieten, ihre Betreuungszeit zu verlängern. Bei mittleren und schwereren Depressionen müssten sie jedoch professionelle Hilfe organisieren, betont Oberndörfer. Sie sollten die Frauen motivieren und unterstützen, einen Arzt oder Psychologen aufzusuchen oder wenn nötig sogar in eine Klinik einzutreten. Wichtig sei zudem, stets die Suizidgefahr im Auge zu behalten und die Frauen direkt nach Suizidgedanken zu fragen. Ein absolutes Alarmzeichen ist, wenn die Frau eine Wochenbettpsychose mit verzerrter Wahrnehmung der Realität entwickelt. Das kann für das Kind gefährlich sein.
Barbara Müller hatte das Glück, dass sie in den ersten Monaten mit dem Baby gut von ihrer Mutter und von Freundinnen unterstützt wurde. Da ihr Partner selbstständig erwerbend ist, konnte er länger zu Hause bleiben als die meisten Väter. «Am meisten hat es mir geholfen, wenn jemand mir sagte: Du kannst nichts dafür», erinnert sich Müller. Der Arzt schrieb sie nach dem Mutterschaftsurlaub noch für zwei Monate krank. «Es dauerte etwa ein Jahr, bis ich wieder mich selber war», blickt die junge Mutter zurück. Unterdessen ist Mia zwei Jahre alt und der kleinen Familie geht es gut. //
WEITERE INFORMATIONEN
- www.postpartale-depression.ch
- «Die Geburt meines ersten Kindes weckte in mir Suizidgedanken», Beitrag auf SRF Virus
- «Postpartale Depression: Auf dem Weg zurück aus der Finsternis», Facebook-Text von Yonni Moreno Meyer (Pony M.), Autorin und Comedienne
- Dossier «Postpartale Depressionen», Grosseltern-Magazin, April 2020