Nach einem Schlaganfall müssen Betroffene oftmals Bewegungen neu erlernen. Eines der Probleme dabei sind Ausweichbewegungen. Um diese rasch und verlässlich beurteilen zu können, haben Forschende am Institut für Ergotherapie ein KI-basiertes Messinstrument entwickelt.
von Annina Dinkel
Die Aufnahme zeigt einen älteren Mann, der den Arm ausstreckt, einen Wasserbecher greift und ihn zum Mund führt. Dabei zieht er die Schulter leicht nach oben und beugt sich nach vorne. Was für Laien bloss zu erahnen ist, bezeichnet Ergotherapeutin Lena Sauerzopf, als «typische Ausweichbewegungen». Denn, so erklärt sie: «Oft treten nach einem Schlaganfall Lähmungserscheinungen und Bewegungseinschränkungen auf. Um Alltagsaufgaben wie Essen, Trinken oder Anziehen zu bewältigen, kompensieren die Betroffenen mit ausweichenden Bewegungen – oft unbewusst.» Längerfristig sind solche Bewegungen ungünstig. Weshalb, erklärt Martina Spiess, die gemeinsam mit Sauerzopf zum Thema forscht: «Wenn Patient:innen Einschränkungen kompensieren, üben sie zum einen die normale Bewegung nicht mehr. Zum andern können durch das Ausweichen neuen Beschwerden wie Gelenkabnutzungen oder Verspannungen auftreten.»
Wunschziel: mobiles Messgerät
Aufgrund dieser Problematik achten Ergo- und Physiotherapeut:innen in der Neurorehabilitation darauf, dass ihre Klient:innen Ausweichbewegungen möglichst vermeiden. Was ihnen dazu bislang fehlte, war ein Messinstrument, das die vielzähligen komplexen Bewegungsabläufe gleichzeitig wahrnehmen sowie objektiv und präzise bewerten kann. Den Nutzen eines solchen Instruments sieht Lena Sauerzopf in zwei Bereichen: «Einerseits wäre es in der stationären Rehabilitation hilfreich, um die Ausweichbewegungen von Schlaganfall-Patient:innen genau einstufen und den Verlauf in der Therapie überprüfen zu können. Andererseits könnte es interessant sein, das Tool den Klient:innen mit nach Hause zu geben, damit sie die Ausführung von Trainingsübungen kontrollieren und Verbesserungen selbst wahrnehmen können.»
Messen kann man Ausweichbewegungen zwar schon heute mithilfe von Infrarotkameras. Die notwendige Infrastruktur kostet jedoch sehr viel Geld und wird primär zu Forschungszwecken in grossen Laboren genutzt. Für den Therapiealltag in der Rehabilitation können sie hingegen nicht eingesetzt werden, da die Vorbereitungen für die Messungen sehr zeitintensiv und folglich zu teuer sind. Günstig und mobil sind hingegen Kameras, wie sie zum Beispiel in Handys oder Laptops verbaut sind. Die Idee, diese zu nutzen, stand am Anfang des Forschungsprojekts, welches das Institut für Ergotherapie am ZHAW-Departement Gesundheit gemeinsam mit dem Institut für Wirtschaftsinformatik der ZHAW School of Management and Law sowie weiteren Partner:innen diesen Sommer abgeschlossen hat. In der von der Digitalisierungsinitiative der Zürcher Hochschulen (DIZH) finanzierten und von Martina Spiess mit geleiteten Studie filmten die Forschenden Schlaganfall-Patient:innen dabei, wie sie aus einem Becher trinken. Die Videos dieser «Trinkaufgabe» bewertete Lena Sauerzopf im Anschluss dahingehend, ob die Person beim Trinken mit den Armen auswich oder nicht. Die von der Forscherin «gelabelten» Videodaten dienten den Projektpartner:innen als Grundlage, um ihr KI-Modell zu trainieren, das auf Deep Learning basiert. Das Modell nutzt die visuell extrahierten Koordinaten von Körperteilen, um vorherzusagen, ob eine Person während der Ausführung der Trinkaufgabe kompensatorische Bewegungen durchführt oder nicht. Das Ergebnis ist eine Kette von rechnergestützten Prozessschritten, die auf Basis von Aufnahmen handelsüblicher Kameras Bewegungsmuster erkennt.
Die Herausforderung mit den Daten
Bis daraus ein im Therapiealltag einsetzbares Messinstrument wird, ist es allerdings noch ein weiter Weg. Dies hat unter anderem damit zu tun, dass alleine die Information, ob ein:e Klient:in eine Ausweichbewegung macht oder nicht, in der Therapie noch nicht viel nützt. Ein Mehrwert wäre hingegen, wenn die kompensatorischen Bewegungen quantifiziert würden. Darauf legte Lena Sauerzopf bei einem Nebenprojekt im Rahmen ihrer Doktorarbeit den Fokus. Ins Projekt involvierte sie rund 20 Ergo- und Physiotherapeut:innen, die Erfahrung in der Rehabilitation nach einem Schlaganfall haben. Die Therapeut:innen hatten die Aufgabe, die Videos zu sichten und die Ausweichbewegungen der anonymisierten Patient:innen auf einer Skala von 0 bis 100 zu bewerten. Allerdings zeigte die Überprüfung der Studienresultate, dass die Bewertungen der Therapeut:innen nur beschränkt verallgemeinerbar sind. Eine mögliche Ursache sieht Sauerzopf darin, dass es für Menschen schwierig ist, zweidimensionales Videomaterial nur «mit dem Auge» zu beurteilen. Für künftige Forschungsprojekte empfiehlt sie daher, die Therapeut:innen vorab zu trainieren oder Sensoren zur Messung und Beurteilung der Armbewegungen hinzuzuziehen. Letztlich alles mit dem Ziel, einen Datensatz zu erhalten, mit dem das Deep-Learning-Modell zuverlässig trainiert werden kann.
Eine weitere Herausforderung: Der Deep-Learning-Prozess benötigt sehr viele Daten. Da es jedoch schwierig ist, genügend Patient:innen für solche Studien zu finden, wollen die Forschenden des Instituts für Wirtschaftsinformatik prüfen, ob es künftig möglich ist, echte Trainingsdaten «künstlich» zu variieren und zu vervielfältigen. Ihre Forschung dazu steht jedoch noch am Anfang.
Ein lohnenswerter Weg
Dass es sich trotz aller Herausforderungen lohnt, in diese Richtung weiterzuforschen, davon sind alle ZHAW-Beteiligten überzeugt. Dies allein deswegen, weil jedes Jahr rund 20 000 Menschen in der Schweiz einen Schlaganfall erleiden. Da therapeutische Massnahmen zudem häufiger im ambulanten Bereich stattfinden, sollten technologische Entwicklungen geprüft werden, die im Alltag der Klient:innen funktionieren. Allerdings, so ist Martina Spiess überzeugt, müsse eine Brücke zwischen Entwicklung und Praxis geschlagen werden, um die Technik nutzbar zu machen. «Dafür müssen Entwickler:innen eng mit Fachpersonen aus der klinischen Praxis zusammenarbeiten.» //
Weitere Informationen
- Deep Learning zur Messung von Ausweichbewegungen des Arms nach einem Schlaganfall | ZHAW Gesundheit
- https://impact.zhaw.ch/de/artikel/bewegungsdaten-fuer-alle