«Es wäre gut, Kinder bei Präventionsregeln mit einzubeziehen»

ZHAW-Professor Frank Wieber hat eine Studie über die Prävention von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Zürcher Sport- und Freizeitvereinen durchgeführt. Sein Fazit: «Die meisten Befragten sind unsicher, ob sie wirklich alles leisten, was sie könnten.»

VON LUCIE MACHAC

Herr Wieber, wo beginnt sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen?
Frank Wieber: Das fängt bereits beim Teilen von pornografischen Inhalten an, wenn sie jemand gar nicht sehen möchte. Diese Form der Gewalt ist unter Jugendlichen relativ weit verbreitet. Machtmissbrauch gehört ebenfalls dazu. Wenn beispielsweise Trainerinnen oder Trainer die Kinder an bestimmten Körperstellen berühren, obwohl dies für die Turnübung gar nicht notwendig wäre.

Wie viele Kinder sind in der Schweiz von sexuellen Übergriffen betroffen?
Laut der repräsentativen UBS Optimus Studie betrafen 15 Prozent aller Kindeswohlgefährdungen im Jahr 2016 sexuellen Missbrauch. Das entspricht rund 4000 gemeldeten Fällen pro Jahr. Der Polizei im Kanton Zürich wurde 2017 durchschnittlich alle zwei Tage ein sexueller Übergriff an einem Kind oder einem Jugendlichen gemeldet. Angesichts der hohen Dunkelziffer und der Tatsache, dass ein Kind häufig wiederholt missbraucht wird, ist es die traurige Realität, dass allein im Kanton Zürich täglich mehrere Kinder sexualisierte Gewalt erfahren.

Wie gut sind die Eltern auf das Thema sensibilisiert?
In unserer Umfrage schätzen sie sich als kompetent ein, Informationen über sexuellen Missbrauch beurteilen zu können. Allerdings wissen sie oft nicht genau, wie sie über die heikle Thematik mit ihren Kindern reden sollen. Eltern möchten ihre Kinder ja nicht mit negativen Dingen belasten, die vielleicht gar nie passieren und ihnen damit unnötig Angst machen.

Wie lässt sich sexualisierte Gewalt schonend ansprechen?
Tätern gelingt es oft, ihren Opfern weiszumachen, dass der Missbrauch ein exklusives Geheimnis zwischen ihnen beiden ist. Die Eltern könnten den Kindern zum Beispiel erklären, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt. Und dass sie sich nicht an alle Geheimnisse halten müssen.

Wie schätzen Sie die Problematik der sexualisierten Gewalt in Zürcher Sportvereinen, Jugendverbänden und der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ein?
Zwischen 6 und 40 Prozent der befragten Organisationen haben von Verdachtsfällen berichtet. Das ist ein eindeutiges Zeichen, dass die Problematik präsent ist. Bei Verdachtsfällen muss jedoch nicht unbedingt eine erwachsene Person involviert sein. Viel passiert auch unter den Jugendlichen selbst, wenn sie Pornovideos per Handy verschicken oder Jungs in der Umkleide Mädchen ausspionieren.

Bei den Sportvereinen haben 6 Prozent der Befragten über Vor- und Verdachtsfälle berichtet, bei der Offenen Kinder- und Jugendarbeit 40 Prozent. Wie erklären Sie sich diesen frappanten Unterschied?
Darauf geben die Daten keine schlüssige Antwort. Eine Erklärung könnte sein, dass die Fachpersonen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sexualisierte Gewalt bereits in der Ausbildung behandeln und deshalb aufmerksamer hinschauen. Nach dem Motto: Im Zweifelsfall melden wir einen Verdachtsfall lieber. Allerdings bedeutet es nicht, dass sich dieser dann auch erhärten muss.

In den Sportvereinen arbeitet ein Grossteil der Trainer ehrenamtlich, die meisten ohne pädagogische Ausbildung.
Deshalb wäre es sinnvoll, die Betreuenden im Vorfeld nicht nur genau zu prüfen, sondern allenfalls in der Thematik auch zu schulen. Sonst besteht die Gefahr, dass sie potenzielle Warnsignale nicht erkennen, etwa wenn sich ein Kind auf einmal zurückzieht.

Was tun die Sportvereine zur Prävention?
Es gibt unterschiedliche Konzepte. VERSA, der Zürcher Verein zur Verhinderung sexueller Ausbeutung von Kindern im Sport, führt beispielsweise periodisch einen Informationsanlass durch, an dem besprochen wird, welche Massnahmen in den Mitgliedervereinen umgesetzt werden sollten. Es ist also ein ständiges Traktandum. Aber wie man verlässlich überprüft, ob die Massnahmen greifen, da wird es sowohl für die Sportvereine als auch für die Jugendverbände schwierig, wie unsere Umfrage zeigt.

Das heisst?
Die meisten Befragten sind unsicher, ob sie wirklich alles leisten, was sie könnten, zumal sie begrenzte zeitliche und finanzielle Ressourcen haben. Sie wissen auch nicht genau, wie sie bei einem Verdachtsfall richtig vorgehen. Deshalb ist ein grosser Wunsch nach einer kompetenten Beratungsstelle da, an die sich die Institutionen bei Verdachtsfällen wenden können und die auch hilft, für die unterschiedlichen Vereine wirksame Präventionsmassnahmen zu konzipieren.

In der Umfrage wird ebenfalls deutlich, dass trotz grosser Aufmerksamkeit auf das Thema teilweise blinde Flecken bestehen.
Die Organisationen sind sich einerseits des breiten Spektrums der sexualisierten Gewalt nicht immer bewusst. Andererseits werden nicht alle Präventionsmassnahmen als feste Regeln umgesetzt. Eine solche Regel könnte zum Beispiel sein, dass sich die Betreuenden nie allein mit einem Kind in den Umkleidekabinen aufhalten dürfen. Auf diese Weise können sich auch die Trainer schützen, denen vielleicht gar nicht bewusst ist, wie heikel solche Situationen sind.

Wo sehen Sie sonst noch Nachholbedarf?
Es wäre sinnvoll, Kinder und Jugendliche in Absprache mit den Eltern bei den Präventionsmassnahmen mit einzubeziehen und mit ihnen zu besprechen, welche Regeln sie innerhalb des Vereins etablieren möchten. Wo würden sie Grenzen setzen? Was ist ihnen unangenehm? Darf man das Handy in die Umkleidekabine mitnehmen? In diese Richtung ist bisher wenig passiert.

Was passiert nun mit den Zürcher Resultaten?
Wir planen eine Veröffentlichung, in der wir die Diskrepanz zwischen der wahrgenommenen Relevanz und den aktuellen Massnahmen aufzeigen. Daraus möchte die ZHAW konkrete Handlungsvorschläge erarbeiten, wie Vereine strukturelle Präventionsangebote entwickeln können. Ausserdem sind unsere Ergebnisse beim Kinderschutz Schweiz auf grosses Interesse gestossen. Es gibt Überlegungen, die Datenbasis schweizweit auszuweiten, mit dem Ziel, ein Monitoring der Präventionsmassnahmen zu etablieren. //


DIE WICHTIGSTEN ERGEBNISSE DER ZHAW-STUDIE:

  • Für die Mehrheit der rund 400 befragten Mitarbeitenden in Sportvereinen, Kinder- und Jugendverbänden sowie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit im Kanton Zürich ist Prävention von sexualisierter Gewalt ein relevantes Thema.
  • Bei den Sportvereinen berichten 6,2 Prozent der Teilnehmenden von Vor- oder Verdachtsfällen, in den Verbänden sind es 21,2 Prozent und in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit 40,5 Prozent.
  • Bei 16 von 18 abgefragten konkreten Präventionsmassnahmen gab nur die Hälfte an, dass ihre Institution diese umsetzt.
  • Eine Mehrheit der Befragten wünscht sich Unterstützung durch eine Fachstelle, die ihren Verein berät oder beim Erstellen von Schutzkonzepten hilft.
  • Bei den Eltern besteht ebenfalls Potenzial, das Wissen über sexualisierte Gewalt zu erhöhen, wie eine im Rahmen der Studie durchgeführte Befragung von 580 Eltern zeigt.

Die Studie wurde vom Verein zur Verhinderung sexueller Ausbeutung von Kindern im Sport (VERSA), dem Zürcher Stadtverband für Sport (ZSS), dem Zürcher Kantonalverband für Sport und okaj zürich in Auftrag gegeben.


«ES BRAUCHT EINE KOMPETENTE ANLAUFSTELLE IN DIESEM SENSIBLEN BEREICH»

Wie geht man bei einem Verdachtsfall richtig vor? Punkto Prävention ist die aktuelle Situation in den Sportverein und Freizeitverbänden sehr unterschiedlich.

«Wir wollten wissen, wie wir unsere Präventionsarbeit optimal auf die Bedürfnisse ausrichten können», sagt Hermann Schumacher, Präsident des Vereins zur Verhinderung sexueller Ausbeutung von Kindern im Sport (VERSA). Der Verein hat deshalb gemeinsam mit dem Zürcher Kantonalverband für Sport und okaj zürich die vorliegende ZHAW-Studie in Auftrag gegeben. «Durch die Ergebnisse fühlen wir uns in unserer Einschätzung bestätigt, dass es eine kompetente Anlaufstelle in diesem sensiblen Bereich braucht», so Schumacher. Sie soll helfen, wirksame Schutzkonzepte zu erarbeiten, und bei Verdachtsfällen beratend zur Seite stehen.

Derzeit konzentrieren sich die Sportvereine vor allem darauf, mit Infoveranstaltungen die Sensibilität unter den Betreuungspersonen zu erhöhen. «Für regelmässige Präventionsschulungen reichen unsere Ressourcen leider nicht», bedauert Schumacher. Auf Stufe Verein herrscht zudem viel Unsicherheit, wie man bei einem «unguten Gefühl» oder konkreten Verdachtsfall richtig vorgehen soll. «Eine professionelle Anlaufstelle, die niederschwellig und kostenlos kontaktiert werden kann, würde Betreuende zweifellos motivieren, heiklen Situationen auf den Grund zu gehen», ist Schumacher überzeugt.

Bei der Offenen Kinder- und Jugendarbeit werden die Kompetenzen im Umgang mit Verdachtsfällen positiv bewertet. «Ich vermute, dass die Nähe zu den Gemeindeverwaltungen den Verantwortlichen einen einfacheren Zugang zu Informationen und Beratung ermöglicht. Sie können sich bei Verdachtsfällen unkomplizierter als freiwillig Tätige in Verbänden an ein interdisziplinäres Team oder andere Präventionsstellen wenden», sagt Livia Lustenberger, Geschäftsführerin von okaj zürich, der kantonalen Kinder- und Jugendförderung.

Die Präventionsmassnahmen von Kinder- und Jugendverbänden reichen von Reglementen bis zu Weiterbildungen für Freiwillige und Lagerleiterkursen. «Es gibt auch einzelne Verbände, die eine Fachperson für Prävention von sexualisierter Gewalt angestellt haben», sagt Lustenberger. Nachholbedarf bestehe dennoch. «Was fehlt, ist eine Übersicht über die diversen Anlaufstellen. Es ist auch nicht allen bewusst, wie breit das Spektrum der sexualisierten Gewalt ist, zumal neue Technologien leider auch neue Formen hervorbringen.» //

Vitamin G, S. 28-30


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