«Ergotherapie klang wie etwas Exklusives»

Michael Sy forscht seit 2023 an der ZHAW – hauptsächlich über die Rückkehr zur Arbeit mit einer Post-COVID-19-Erkrankung. Wie er von Manila über Tokio nach Winterthur kam, und warum er eher zufällig Ergotherapeut wurde.

von Nina Kobelt

Dr. Michael – Mike – Sy sagt, die OT-Community sei sehr klein. Irgendwie deshalb ist er auch in Winterthur gelandet. Wo die OTs, also Occupational Therapists, Ergotherapeut:innen heissen. Er wohnt nur fünf Minuten vom Campus des Departments Gesundheit entfernt, seit über einem Jahr. Mike Sys Mutter kam diesen Frühling erstmals zu Besuch – aus den Philippinen. Er hofft, bald ein Familientreffen organisieren zu können, vielleicht noch dieses Jahr. Aber von Anfang an.

Die Familie Sy hat sich den Gesundheitsberufen verschrieben, darauf sind sie alle stolz: Die vier Tanten, die als Pflegefachfrauen in den USA arbeiten, die Physiotherapeuten-Cousins, die Tante, die Ärztin ist, der Onkel, auch Arzt, die Schwestern, drei von ihnen «nurses», wie Sy sagt, eine ist wie er OT. Ergotherapeut ist der 37-Jährige zufälligerweise geworden. Arzt werden, das war der Plan, und dafür wollte er erst mal an die Uni für das «nursing programme» – die Pflegeausbildung. Die Konkurrenz war gross. Damals vor 10, 15 Jahren, hiess es auf den Philippinen: Bist du nurse, kannst du easy ins Ausland – und arbeiten, wo du willst! «Noch heute emigrieren viele Pflegefachpersonen für ein besseres Leben», sagt Michael Sy.

Beruf hat etwas Geheimnisvolles

Er kam auf eine Warteliste für die Pflegeausbildung. Gleichzeitig bot man ihm einen Studienplatz in Ergotherapie an. Das Angebot klang für Sy interessant, obwohl ihm nicht ganz klar war, worauf er sich einliess: «Ich wusste nicht mal, was Ergotherapie ist. Aber es hatte auch etwas Exklusives, ich fühlte mich einzigartig.» Als angehender Ergotherapeut merkte er bald: Da niemand genau wusste, was das für ein Beruf war, schien er schon fast ein bisschen geheimnisvoll und interessant. «Das war toll, wenn man neue Leute kennenlernen wollte», sagt er schmunzelnd.

Der Plan, später Medizin zu studieren, rückte in die Ferne. Weil Sy merkte: «Als Ergotherapeut kann ich so vielen unterschiedlichen Menschen helfen!» Seine Arbeit war erfüllend. Und war es nicht das, was er immer gewollt hatte? Also verschwieg er seiner Mutter, dass er die Prüfungen für das Medizinstudium gar nicht antrat und stellte sie vor vollendete Tatsachen: Er würde Ergotherapeut werden. Quasi versehentlich.

Mit dem Segen der Mutter

Nach dem Master trat er in Tokio eine Doktorandenstelle an, finanziert von der japanischen Regierung. Sein Hauptgebiet: Suchttherapien aus Perspektive der Ergotherapie. Den Ph.D. in der Tasche, kehrte Sy nach drei Jahren nach Manila zurück. «Ich wollte nach Hause», sagt er, «zurück in die comfort zone». An einen Ort, wo er seine Sprache sprechen und schreiben konnte, die Kultur kannte und sich für eine Weile ausruhen wollte – statt sich immer anzupassen. Das war 2019, kurz vor der Pandemie. Anfang 2020 trat er eine Stelle als Associate Professor in der Ausbildung von Health Professionals an der University of the Philippines an. Er unterrichtete vor allem, forschte daneben aber auch – alles online, es war ja Lockdown.

Die Philippinen sind regelmässig mit verschiedenen Sicherheitsproblemen konfrontiert, die politische Situation ist immer wieder schwierig. Sys Job war jedoch mehr oder weniger «safe», er war beim Staat angestellt, es konnte ihm eigentlich nichts passieren. Ganz erfüllend war die Arbeit für ihn trotzdem nicht. 2021 reiste er für ein internationales Symposium in die Schweiz. Hatte Lunch mit Kolleg:innen, lernte Leute kennen, verlinkte sich auf Social Media. «Die OT-Community ist klein», sagt er noch einmal. Schliesslich, im vergangenen Herbst, fragte ihn eine Dozentin vom Institut für Ergotherapie, ob er nicht jemanden kenne für eine Stelle in der Forschung. Jemanden mit einem Doktortitel. Mike Sy suchte – und fand niemanden. Was, schlug die Dozentin vor, wenn du dich bewirbst?

Ja, er wollte schon, aber: «Ich hatte ein grosses Problem. Meine verwitwete Mutter.» Denn er lebte noch bei ihr, zusammen mit seinem kleinen Bruder, der ebenfalls single war. Seine Mutter nahm es gelassen: Er sei doch alt genug, um das zu entscheiden. «Schau nicht auf mich!» Also reichte er seine Bewerbung ein und bekam die Stelle an der ZHAW. Weil er aber seinen Job wirklich liebte – «vor allem das Unterrichten und meine Arbeitskollegen» –, hatte er Mühe, seinem Umfeld beizubringen, dass er fortan in der Schweiz arbeiten würde. Er zögerte die Ankündigung bis zum letzten Moment hinaus – und beichtete am Weihnachtsessen, dass er kündige.

Stolz auf sein erstes Buch

Als wissenschaftlicher Mitarbeiter forscht er nun vor allem, daneben unterrichtet er Bachelor- und Masterstudierende. Sein Hauptforschungsgebiet: «Rückkehr zur Arbeit mit einer Post-COVID-19-Erkrankung». Menschen, die an «Post-COVID Condition (PCC)» erkrankt sind, zeigen unter anderem Symptome wie Müdigkeit, Kurzatmigkeit und kognitive Funktionsstörungen, die ihr tägliches Leben und ihre Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen. Das Ziel von Mike Sy und seinem Team: Informationen für die Erstellung klinischer Leitlinien für Ergotherapeut:innen und Rehabilitationsfachpersonal bereitzustellen. Bald kommt sein erstes Buch heraus: «Occupational therapy in the Philippines: Theory, practice, and stories». Er fungiert als Herausgeber und ist stolz, 32 Autor:innen mit einem Bezug zu den Philippinen gefunden zu haben.

Forschungsparadies Schweiz

Die Arbeit an der ZHAW ist anders als auf den Philippinen. Mike Sy liebt seinen Arbeitsplatz – und die Schweiz. Besonders, dass hier alles geordnet ist, die Menschen freundlich, höflich und diszipliniert sind. «Es ist einfach schön, hier zu leben.» Und dann die Forschung! «Hier hat man alle Ressourcen, die man braucht. Bücher. Grosse Büroräume. Computer. Jegliche Software, um Analysen zu erstellen.» Es sei ein Paradies für Forschende. «Manchmal hat man Mühe, überhaupt ein Problem zu finden, das man lösen kann.» Wie meint er das? Auf den Philippinen, sagt Mike Sy, entstehen jeden Tag hundert Probleme. Doch für Lösungen fehlen die Ressourcen. Hier sei es gerade umgekehrt. Manchmal fragt der Philippiner sein Team: Wirklich? Das ist ein Problem für euch? Ein Beispiel ist Mike Sys Forschungsobjekt   PCC. In Manila, sagt er, hätte er bei Null angefangen. Nicht so in der Schweiz. Hier existieren Strukturen für Lösungen. Und ausserdem: «Auf den Philippinen sind die Probleme offensichtlich. Hier muss man tiefer graben, damit man die Komplexität erkennt und ein Problem formulieren kann, das sich erforschen lässt.» Das sei manchmal ziemlich herausfordernd – also genau in Mike Sys Sinne. //

Vitamin G, S. 7-6

Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


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