Wenn Kinder verträumt oder unruhig sind, können Matheaufgaben stundenlang dauern. Die mangelnde Konzentrationsfähigkeit führt zudem oft zu Misserfolg in der Schule. Forschende an der ZHAW entwickeln deshalb eine Fokus-Uhr, die Primarschüler:innen beim konzentrierten Arbeiten unterstützen soll.
von Andrea Söldi
Bei den ersten beiden Stöckchen mit Rechnungen geht’s ganz flott voran: 380 plus 43, 112 plus 21 – mit Bleistift notiert Ramona (Name geändert) alle Resultate korrekt in ihr Matheheft. Doch nun flüstern zwei andere Personen im Raum miteinander. Das Mädchen blickt auf, schaut zur Geräuschkulisse und hält mit seinen Hausaufgaben inne. Bis ein leichtes Vibrieren am Handgelenk die Achtjährige zurückholt und sie sich wieder ans Rechnen macht.
Ramona ist eins der Kinder, die eine an der ZHAW entwickelte Fokus-Uhr in der ersten Projektphase testen. Die Applikation, die auf eine Smartwatch geladen wurde, soll Primarschulkinder dabei unterstützen, ihre Aufmerksamkeit über eine längere Zeitspanne aufrechtzuerhalten. Denn neben Hyperaktivität und Impulsivität gehört Unaufmerksamkeit zu den drei Hauptsymptomen einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Die mangelnde Fähigkeit, sich länger auf eine Aufgabe zu konzentrieren, führt oftmals zu Misserfolg in der Schule, angespannten Situationen zu Hause sowie viel Frustration und schwindendem Selbstvertrauen. Betroffene Kinder sitzen manchmal stundenlang an ihren Hausaufgaben und kommen kaum vom Fleck.
«Wir wollen Kinder befähigen, selbstständiger und effizienter zu arbeiten», sagt Co-Projektleiter Frank Wieber. «Ihre Motivation ist, dass sie mehr Erfolgserlebnisse und auch mehr Freizeit haben.» Von der Fokus-Uhr könnten aber nicht nur Kinder mit diagnostiziertem ADHS profitieren, sondern auch solche mit Ablenkbarkeit in geringerem Masse oder sogar ganze Schulklassen, erklärt der stellvertretende Leiter Forschung am Institut für Public Health. «Fast alles, was Kindern mit ADHS hilft, kann auch anderen nützen.»
Algorithmus erkennt Schreibbewegungen
Die Entwicklung, die von der Digitalisierungsinitiative der Zürcher Hochschulen (DIZH) gefördert wird, basiert auf einem Algorithmus, der erkennt, ob die Trägerin oder der Träger der Uhr gerade am Schreiben ist oder nicht. Pausiert die Hand länger als eine Minute, leuchtet das Display automatisch auf und ein gelber Kreis erscheint. Zudem kann die Uhr so eingestellt werden, dass eine Vibration ans Weiterarbeiten erinnert. Alternativ sei es auch möglich, mit einem positiven Feedback zu arbeiten, erklärt Wieber. «Einige empfinden es als motivierend, wenn beim konzentrierten Arbeiten jede halbe Minute ein kleines Zeichen in Form einer Vibration eintritt.»
Die Fokus-Uhr ist zudem nach dem Prinzip der sogenannten Pomodoro-Technik programmiert, die die Zeit in klar abgegrenzte Arbeitsblöcke und Pausen einteilt. Dies soll helfen, an einer Aufgabe dranzubleiben und andere Aktivitäten auf die Pause zu verschieben. Während bei Erwachsenen oft eine Arbeitsspanne von 25 Minuten und eine Pause von fünf Minuten sinnvoll sind, müssen die Phasen bei Kindern kürzer sein.
Sanduhr zeigt Arbeitszeit an
Der wissenschaftliche Mitarbeiter Dominique Truninger, der die Tests an der ZHAW durchführt, hat mit Ramona drei Durchgänge à zehn Minuten Arbeiten und drei Minuten Pause vereinbart. Beim Start erscheint ein blauer Kreis auf dem Display. Dieser leert sich wie eine Sanduhr bis zum Übungsende. Während des Arbeitens bleibt das Display jedoch schwarz, um Ablenkung zu vermeiden. «Digitale Hilfsmittel müssen sehr dosiert und gezielt eingesetzt werden, damit sie keine zusätzliche Ablenkung schaffen», betont Frank Wieber. Aus diesem Grund werden auch die meisten anderen Apps, die normalerweise auf der Smartwatch vorhanden sind, gelöscht.
In den ersten zehn Minuten hat Ramona schon fast das ganze Arbeitsblatt mit Rechnungen geschafft. Nun zeigt ihr ein leichtes Vibrieren an, dass es Zeit für eine Pause ist. Danach ist sie bereit für den zweiten Durchgang. In dieser Zeitspanne beendet die Drittklässlerin ihre Matheaufgaben und beginnt damit, einen Text über den Planeten Saturn abzuschreiben. Wird ihre Hand unruhig, erscheint auf dem Display der gelbe Kreis, in dem sich die weisse Fläche von oben her immer mehr ausbreitet. Dies soll die Schülerin ans Weiterarbeiten erinnern und ihr gleichzeitig veranschaulichen, wie lange die Aufgabe noch dauert. Ramona scheint am Hilfsmittel bereits Gefallen gefunden zu haben. «Das Vibrieren hat mir geholfen, konzentriert weiterzuarbeiten», sagt sie. Auf dem Auswertungsblatt, das Dominique Truninger nun mit ihr durchgeht, umkreist sie auf einer Skala die höchste Stufe – zwei lachende Smileys.
Aufmerksam zu bleiben falle ihr besonders im Schulalltag schwer, wo die anderen Kinder manchmal für Unruhe sorgen, erzählt das Mädchen. In ihrem stillen Zimmer zu Hause könne sie besser arbeiten. Dies bestätigt auch ihre Mutter, die mit ihr zum Test ans ZHAW-Departement Gesundheit gekommen ist. «Meine Tochter träumt aber auch oft und schaut aus dem Fenster.» Ein digitales Hilfsmittel, das dies erkennt, würde sie sehr begrüssen. «Wir Eltern können ja nicht immer daneben sitzen.»
Weitere Entwicklung nötig
Das Forschungsteam wird nun versuchen, die noch bestehenden Mängel zu beheben. Beim ersten Test Mitte September funktioniert die Sanduhr-Darstellung noch nicht optimal. Und jedes Mal, wenn Ramona ein Matheresultat mit dem Gummi korrigiert, erscheint auf dem Display der gelbe Kreis. Die Uhr interpretiert die ruckartigen Bewegungen anscheinend fälschlicherweise als unproduktive Unruhemomente. Zudem sind die Pausenzeichen zu schwach eingestellt, sodass das Mädchen sie gar nicht spürt. In dieser ersten Projektphase sind Tests mit mindestens 40 Kindern geplant. Erste Ergebnisse sollten Ende Jahr vorliegen. Das interdisziplinäre Projektteam rund um Frank Wieber vom Institut für Public Health und Samuel Wehrli vom Institut für Computational Life Sciences in Wädenswil wird die Fokus-Uhr anschliessend aufgrund der Rückmeldungen weiterentwickeln. In der nächsten Phase sollen die Kinder sie auch im Schulalltag und zu Hause ausprobieren können – dafür werden noch Studienteilnehmende gesucht. Zum Abschluss des Projekts sind ausserdem quantitative Tests mit mehr Nutzenden geplant.
Ramona und ihr Bruder, der sie begleitet hat, dürfen sich zum Schluss noch eine kleine Belohnung aus einer gut gefüllten Kiste nehmen. Während sie einen mehrfarbigen Kugelschreiber mit einer Spielfigur wählt, entscheidet sich der Bruder für eine Süssigkeit. Dann machen sie sich mit ihrer Mutter wieder auf den Weg. /