Im Gesundheitswesen können erlernte Stereotype dazu führen, dass Patient:innen mit den gleichen Beschwerden unterschiedlich behandelt werden. Wie man dem entgegenwirken kann, weiss Ursula Meidert, die über «unconcious bias» forscht.
von Eveline Rutz
Dicke Menschen gelten als undiszipliniert. Zugewanderte werden als krimineller eingeschätzt als Einheimische. Und Männer werden eher in der Chefrolle gesehen als Frauen: Das menschliche Hirn assoziiert blitzschnell. Manche Zuschreibungen geschehen bewusst, andere unbewusst. «Solche tief verwurzelten Denkmuster beeinflussen unser Verhalten», sagt Ursula Meidert vom Institut für Public Health.
Im Gesundheitswesen können Vorurteile fatale Folgen haben. So kommt es vor, dass Patient:innen – je nach physischen Merkmalen oder Eigenschaften – unterschiedlich behandelt werden und gesundheitliche Nachteile erleiden. «Das widerspricht dem Grundsatz, dass Personen bei gleichen medizinischen Sachverhalten die gleiche Behandlung erfahren sollten.» Die Soziologin hat sich die letzten zwei Jahren im Rahmen einer 40-Prozent-Forschungsstelle ins Thema vertieft. Sie kommt zum Schluss, dass sogenannte «unconscious bias» im medizinischen Umfeld weit verbreitet sind. Sie lassen sich bei der Ärzteschaft ebenso nachweisen wie beim Pflegepersonal. Andere medizinische Berufsgruppen sind von der Forschung bislang zwar weniger berücksichtigt worden. Doch die vorhandenen Studien dokumentieren voreingenommenes Denken beispielsweise auch bei Ergotherapeut:innen, Physiotherapeut:innen und Hebammen. «Da sind keine Unterschiede auszumachen.»
Stereotype sichern das Überleben
In der Entwicklung des Menschen machen schnelle Kategorisierungen durchaus Sinn. Sie ersparen dem Gehirn bei wiederkehrenden Entscheidungen Arbeit. Sie geben gerade bei Unsicherheiten Orientierung. Und sie dienen gewissermassen als Abkürzung. «Diese Fähigkeit ist wahrscheinlich evolutionär bedingt, sie sichert das Überleben», sagt Ursula Meidert. Sie findet es spannend, welche Macht unbewusste Einstellungen haben. «Wir denken, dass wir logisch handeln. Doch die Forschung zeigt deutlich, wie fehleranfällig wir sind.»
Zuschreibungen ergeben sich in erster Linie daraus, wie eine Person aussieht, auftritt und kommuniziert. Sie basieren auf Merkmalen wie Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Gewicht oder sozioökonomischer Status. «Gewisse Stereotype sind universell», hält Meidert fest. Tatsächlich werden Frauen weltweit anders wahrgenommen als Männer. Sie werden vom Gesundheitspersonal beispielsweise als wehleidiger eingestuft. Folglich müssen sie länger warten, bis ihnen Schmerzmittel verschrieben werden – und sie erhalten weniger starke Medikamente. Frauen werden auch seltener zu zusätzlichen Abklärungen aufgeboten als Männer mit denselben Beschwerden. Ihre Leiden werden zudem häufiger psychosomatisch erklärt.
Auch die Herkunft eines Menschen kann zu Diskriminierungen führen, wie zum Beispiel Studien aus den USA belegen. People of Color werden in den Vereinigten Staaten weniger aufwändig untersucht und behandelt als weisse Menschen. Sie haben ein höheres Risiko für schwere Krankheitsverläufe und sterben früher. Solche Benachteiligungen sind auf historische sowie kulturelle Wertungen zurückführen und werden durch Sozialisation erlernt. Auch in anderen Weltregionen lassen sich negative Einstellungen gegenüber ethnischen Minderheiten feststellen. In der Schweiz sind beispielsweise Migrant:innen aus Ex-Jugoslawien davon betroffen. «Das medizinische Personal diskriminiert nicht bewusst», betont Ursula Meidert. Je eindeutiger eine Diagnose sei, desto weniger kämen unbewusste Einstellungen zum Tragen. Gehe es zum Beispiel darum, ein künstliches Kniegelenk einzusetzen, spiele die Herkunft einer Person keine Rolle. Anders sei es, wenn Unsicherheit herrsche und beispielsweise die Ursache von Schmerzen nicht klar ausgemacht werden könne. Dann kämen andere Aspekte der Person ins Spiel, die eigentlich nichts mit der Erkrankung zu tun hätten – etwa das Geschlecht oder die Herkunft.
Zeitdruck macht anfällig
«Je entscheidender die Kommunikation ist, desto stärker wirken sich unconscious bias aus», sagt Ursula Meidert. Studien belegen ausserdem den Einfluss von kognitiver Belastung, Zeitdruck und Müdigkeit: Sie machen Menschen anfälliger dafür, nach erlernten Kategorisierungen zu handeln. Wer sich mit den eigenen Denkmustern auseinandersetzen will, kann einen Impliziten Assoziationstest (IAT) machen. Im Internet ist eine breite Palette zu finden, die verschiedene Faktoren berücksichtigt.
Den Studierenden des Moduls «Gesundheit und Geschlecht» empfiehlt Ursula Meidert jeweils, sich mit Geschlechterstereotypen zu befassen. «Denn sich zu hinterfragen und die eigenen Stereotypen zu kennen, ist ein erster Schritt zu weniger Diskriminierung.» Gesundheitsfachpersonen sollten sich laut der Dozentin möglichst von Fakten leiten lassen. Und sie sollten sich für eine Diagnose Zeit nehmen, sich in die Lage des Gegenübers versetzen und sich bei Unsicherheiten mit einer anderen Fachperson austauschen. «So gelangen sie zu besseren Einschätzungen.»
Was Institutionen tun können
Die Wissenschaftlerin plädiert dafür, Teams divers zusammenzusetzen. So seien unterschiedliche Prägungen und Perspektiven vertreten. Mitarbeitende könnten sich mit Menschen aus anderen Lebenswelten austauschen und von diesen lernen. «Dadurch treffen sie bessere Entscheidungen.» Wichtig sei zudem, dass sich Institutionen in einem Code of Conduct dazu verpflichteten, alle Patient:innen gleich zu behandeln. Dies gebe Orientierung. «In der Aus- und Weiterbildung sollte das Thema zudem mehr Raum erhalten und das Personal müsse in der Kommunikation mit vulnerablen Gruppen wie Minderheiten geschult werden.»
In einer nächsten Studie will Ursula Meidert untersuchen, wie verbreitet «unconscious bias» beim Gesundheitspersonal in der Schweiz sind. Am Institut für Public Health hat sie bereits angeregt, dass Leistungsnachweise nicht mehr mit dem Namen der Studierenden, sondern mit deren Matrikelnummer gekennzeichnet werden. An einer internen Veranstaltung im Dezember soll zudem weiter darüber diskutiert werden, wo erlernte Stereotype im Hochschulalltag vorkommen und was man dagegen tun kann. «Jeder hat unbewusste Vorurteile», sagt sie. «Entscheidend ist, einen guten Umgang mit ihnen zu finden». //