Was tun, wenn ein Patient übergriffig wird? Oder wenn eine Schwangere blaue Flecken hat? In Situationstrainings mit Schauspieler:innen üben Studierende am Departement Gesundheit, wie sie schwierige Situationen meistern können. Das fordert alle Beteiligten gleichermassen.
Von Nina Kobelt
Herr Aschwanden wird ausfällig. So richtig. Er liegt im Spitalbett und beschimpft alle, die ihm unter die Augen kommen. Herr Aschwanden muss sehr unglücklich sein – das merkt man schnell, anscheinend ist er Spitzensportler, und sein Knie musste erneut operiert werden. Seine Zukunft als Profi ist ungewiss. An niemandem lässt er ein gutes Haar: Der Chirurg hat gepfuscht, überhaupt kann keiner etwas «in diesem Laden» und die Pflegefachfrau, die zu einer Therapie raten will, macht er klein, indem er über «junges Gemüse» schimpft und eine Fachperson verlangt. Bloss: Die Gesundheitsfachperson steht schon neben ihm. Sie ist jung, ja, aber absolut kompetent.
Das Situationstraining am Departement Gesundheit fordert alle Beteiligten: Studierende, die sich in ihrer Berufsrolle «spielen», Schauspieler:innen wie Urs Humbel, der Herrn Aschwanden verkörpert. Aber auch die Zuschauer:innen, bestehend aus den Mitstudierenden, die Situationen wie die beschriebene so oder in ähnlicher Form schon erlebt haben. Mit anderen Worten: In jedem Pflegealltag gibt es einen Herr Aschwanden.
Das Training kommt der Wirklichkeit ziemlich nah, und das geschieht natürlich mit Absicht: In der Themenwoche «Krise und Coping» erhalten Studierende der Bachelorstudiengänge Ergotherapie, Physiotherapie, Hebamme, Pflege sowie Gesundheitsförderung und Prävention die Gelegenheit, Extremfälle zu üben. Sie alle studieren im 5. Semester und sie alle haben während ihrer Praktika schon Situationen erlebt, die für alle Beteiligten belastend waren.
Mix aus Fiktion und Wirklichkeit
Das spielerische Übungsfeld ist ideal, das spürt man, das sieht man. Auch, weil es nicht direkt ans Improvisieren geht, sondern erst einmal ans «Aufwärmen». Ilona Hippold, Dozentin für Interprofessionelle Lehre und Praxis, stimmt die Studierenden sanft ein, indem sie sie erst einmal aus dem richtigen Leben erzählen lässt. Alle Kursteilnehmer:innen haben eine Situation aus der Praxis mitgebracht, in der sie sich unwohl gefühlt haben. Sie erzählen der Runde zunächst, was konkret vorgefallen ist, und wie sie und ihr Umfeld reagiert haben. Da ist etwa die Abteilungs-Chefin, die Hilfestellung bietet, indem sie die Praktikantin vor einem besonders ausfällig werdenden Patienten zu schützen versucht. Eine andere Vorgesetzte ist abwesend, und die Praktikantin muss selber schauen, wie sie zurechtkommt, als der Patient handgreiflich zu werden droht. Und eine dritte Studentin schildert ihre Unsicherheit darüber, wie die Nachricht über einen Todesfall zu überbringen gewesen wäre.
Krisensituationen gehören in den Gesundheitsfachberufen zum Alltag, und Studierende handeln bereits professionell, wenn es darum geht, schwierige Situationen und Herausforderungen aller Art zu meistern. Doch auch mit Krisen ist es wie mit so vielem im Leben: Je mehr Übung man hat, desto besser gehts.
Alle Settings an diesem Nachmittag sind ein Mix aus Fiktion und Realität, Dozent:innen haben sie kreiert. Zum Teil basieren sie auf Fällen, die Studierende vorab eingereicht haben. Schauspieler:innen wie Urs Humbel, der sich nunmehr seit sieben Jahren in verschiedene Patientenrollen hineinversetzt, müssen sehr viel improvisieren und sind manchmal genauso gefordert wie die Studierenden. Deshalb gibt es zu Beginn des Trainings eine kurze Auflockerung: Arme schütteln, atmen und im «Hier und Jetzt spüren» – Urs Humbel zeigt, wie man sich als Profi vorbereitet. Dann gehts los.
Eine Person aus der Gruppe wird ins kalte Wasser geworfen, sprich: Sie muss ans Spitalbett. Allein ist aber niemand. Wenn Dozentin Ilona Hippold sieht, dass jemand nicht weiterkommt, schickt sie «einen Engel» ins Rennen – eine andere Studierende, die sie vorher dazu auserkoren hat, eine Situation zu entschärfen, aufzulösen oder mit einem anderen Ansatz in Angriff zu nehmen. Nach jeder Szene wird analysiert: Was war gut? Was weniger? Wo hätte man anders reagieren können? Hätte man Hilfe holen sollen?
Zuschauen, analysieren, lernen
Urs Humbel spielt jetzt eine richtige Knacknuss: Er ist Thomas Kroetz, 50, ein Werber, der sich beim Kochen mit einem Messer verletzt hat. Mehr wissen die Studierenden nicht. Doch schnell ist klar, womit es die erste Studentin, die an sein Bett tritt, zu tun hat. Der Patient verhält sich massiv übergriffig, macht unangebrachte Komplimente, will die angehende Gesundheitsfachperson immer wieder anfassen. Je länger die Szene dauert, desto unangenehmer wird es, auch für die Zuschauer:innen. Die erste Studentin ignoriert tapfer alle Anmachversuche. Die zweite – der «Engel» – ebenfalls. Mehr noch: Sie steckt sofort Grenzen ab, tritt einen Schritt zurück, weist den Patienten darauf hin, dass er sie nicht berühren darf. Die dritte versucht, ihn abzulenken. Zunächst erfolgreich, dann macht er jedoch weiter mit blöden Sprüchen.
Die Übungen zur Krisenbewältigung sind interprofessionell: Physiotherapeut:innen reagieren je nach Situation anders als Hebammen, eine Person aus der Ergotherapie wiederum anders als jemand aus der Pflege. Abschauen und lernen kann man immer, diskutieren und analysieren natürlich auch. Nach der Analyse hallt nach, was bei der Szene über sexuelle Belästigung bereits spürbar war: Alle haben schon eine Situation mit einem Patienten wie Thomas Kroetz erlebt.
Nach einer Pause geht es ins nächste «Krankenzimmer», zu Sandra Müller. Die hochschwangere Frau sitzt auf dem Bett, am Hals hat sie blaue Flecken. Schnell wird klar: Die 35-Jährige, gespielt von Rahel Sternberg, hat häusliche Gewalt erfahren. Das streitet sie jedoch ab. Die Studierenden sollen sie zu einer Beratung motivieren, was ihnen nur mässig gelingt. Rahel Sternberg spielt die Rolle von Frau Müller überzeugend. Selbst als eine Studentin sie direkt auf ihren gewalttätigen Mann anspricht, sucht sie Ausflüchte, leugnet konsequent, dass ihre Würgemale von einer Drittperson stammen und blockt sämtliche Beratungsversuche ab. Da kommen die Studierenden nicht weiter. Zu bestimmt spielt Sternberg die Frau, die ihre Augen vor der Wirklichkeit verschliesst. Was nun? In der Analyse danach wird diskutiert. Die Schauspielerin sagt, sie hätte sich gewünscht, dass man sie als Frau Müller noch konkreter auf die Gewalt angesprochen hätte, die ihr offensichtlich widerfahren ist.
Das Stresslevel ist hoch
Für die Student:innen, die gerade nicht ins Training involviert sind und zuschauen, ist es ein bisschen wie bei einer Casting-Show: Nicht so schlimm, wenn man im Publikum sitzt. Man hat dort einen besseren Überblick. Oder wie Dozentin Ilona Hippold es ausdrückt: «Es ist ein bisschen wie bei einem Fussballmatch, als Zuschauer:in ist man immer der oder die bessere Trainer:in. Dadurch, dass sich die Schauspieler:innen in eine Rolle hineinsteigern, oft auch, weil die Student:innen so überzeugend auftreten, provozieren sie Emotionen.» Das Stresslevel und die emotionale Betroffenheit sind, wie sich in der Nachbesprechung des Nachmittags heraustellt, bei allen hoch. Vor allem bei den Studierenden, die sich wie die Schauspieler:innen stetig in eine neue Rolle hineinversetzen mussten. Flexibilität ist gefragt, denn alle reagieren anders. Ein «Besser» gibt es in diesen Übungssituationen nicht, sondern nur andere Möglichkeiten, die zu sogenannten Referenzerfahrungen werden.
Wie wertvoll die Analyse nach jedem Auftritt ist, kristallisiert sich in den Gesprächen schnell heraus. Wichtig: Man darf, ja soll auch mal etwas falsch machen. Es ist ein Ausprobieren: Wie könnten Patient:innen reagieren? Was könnte man besser formulieren? Ilona Hippold sagt, sie sei ein regel-
rechter Fan des intuitiven Wissens, einer anderen Form von Wahrnehmung. Sie fordert die Studierenden aber immer auf, ihr Verhalten sachlich und kritisch zu reflektieren. Üben und direktes Feedback können helfen, sich mit einer Situation nicht nur beiläufig auseinanderzusetzen, sondern sich ihrer bewusst zu werden. Im Idealfall reagiert man dann beim nächsten Mal anders auf einen Herrn Kroetz. Wenn nicht, hat man zumindest die Emotionen, die ein solcher Fall mit sich bringt, einmal mehr durchgespielt. Und reagiert vielleicht gelassener und professioneller. //
Wie geht Situationstraining?
Situationstraining ist ein Übungsformat, in dem das in Alltag und Studium erworbene Wissen angewendet wird: Je weiter die Studierenden des Departements Gesundheit in ihrer Ausbildung sind, desto wichtiger wird dieser Punkt. Mit dem Situationstraining üben sie Beziehungsaufnahmeund Kommunikation, reflektieren ihr eigenes Verhalten und erhalten Feedback von Peers und Dozierenden. Das Format hat sich in den letzten zehn Jahren stetig weiterentwickelt, vom Improvisationstheater hin zu gespielten Situationen, die auf echten Begebenheiten basieren.