Über 60 Prozent der Schweizer Bushaltestellen sind nicht barrierefrei. Die Zahl steht für unzählige Geschichten von Menschen, denen Hindernisse das Leben erschweren. Ein neues Forschungsprojekt sucht nach Lösungen und macht Hoffnung auf eine inklusive Zukunft.
von Jessica Prinz
Karin Rüedi geht mit sicherem Schritt durch die Schwamendinger Strassen. Ihr weisser Langstock gleitet geschmeidig über den Asphalt, tastet sich entlang der Bordsteine, kündigt Hindernisse an, bevor sie sie erreicht. Wegen einer Genmutation verkleinert sich Karin Rüedis Sichtfeld langsam, aber stetig, von der Peripherie zum Zentrum hin. An den Seiten sowie nach unten und oben flimmert es ununterbrochen und lässt kein Sehen mehr zu. «Bis vor etwa sechs Jahren galt ich ganz einfach als Schussel. Erst dann wurde erkannt, dass ich eine Retinitis pigmentosa habe, wodurch meine Retina langsam abstirbt. Ich war knapp 60 Jahre alt–und plötzlich behindert», erzählt Karin Rüedi. «Damit muss man sich erstmal zurechtfinden.»
Die Diagnose, so sehr sie Rüedi damals auch in ein Loch fallen liess, stellte für die heute 66-Jährige einen Wendepunkt dar. Sie ermöglichte es ihr, Herausforderungen zu verstehen und Strategien zu entwickeln. Es dauerte eine Weile, bis sie sich dazu überwinden konnte, am Langstock zu gehen. Ihr habe es missfallen, dadurch als behindert gekennzeichnet zu sein. Heute weiss sie: «Ohne den Stock könnte ich nicht mehr rausgehen. Er hilft mir enorm – und gibt zusätzlich meinem Umfeld zu verstehen, was mit mir los ist.» Der gebürtigen Thurgauerin war und ist es ausgesprochen wichtig, ihre Selbständigkeit zu behalten. So besucht sie zum Beispiel regelmässig Konzerte in der Tonhalle in Zürich, «auch wenn ich nachtblind bin. Abends wird es für mich zappenduster und ich habe nur noch wenige Orientierungspunkte. Aber das lasse ich mir nicht nehmen!» Durch das Tixi Taxi, das sie zur Tonhalle bringt und nach Konzertende wieder abholt, kann sie ihrer Leidenschaft für Konzerte weiterhin nachgehen.
Freizeitaktivitäten fallen weg
«Das Tixi Taxi ist eine gute Lösung. Der Preis für einen Behindertentransport ist aber immer noch bis zu zehnmal höher als für den öffentlichen Verkehr. Das müsste optimiert werden», erklärt Brigitte Gantschnig, Co-Leiterin des Forschungsprojekts «Mobilität, gesellschaftliche Teilhabe und Gesundheit von Personen mit Behinderungen in der Schweiz» (MOBILE). Das Projekt untersucht seit 2024, was Menschen mit Behinderungen und alte Menschen daran hindert, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. In einem Vorläuferprojekt wurde bereits festgestellt, dass diese aufgrund der hohen Anstrengung gewisse Aktivitäten einstellen und nur noch wesentliche Termine wie Arztbesuche wahrnehmen. Freizeitaktivitäten, beispielsweise der Kirchenbesuch oder das Treffen mit Freunden, werden dagegen vernachlässigt – was die soziale Teilhabe der Betroffenen auf ein Minimum reduziert. «Wir wollen die Lebensrealität von Menschen mit eingeschränkter Mobilität verstehen und Verbesserungsvorschläge erarbeiten. Jeder Mensch soll aktiv am Leben teilnehmen können», erklärt Gantschnig.
Das vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Projekt, das vom ZHAW-Institut für Ergotherapie gemeinsam mit der HES-SO Lausanne, dem Swiss Health Learning System und dem schwedischen Karolinska Institut durchgeführt wird, verfolgt einen Forschungsansatz mit gemischten Methoden. Durch qualitative und quantitative Interviews, sogenanntes PhotoVoicing, in dem Teilnehmende gebeten werden, Fototagebuch zu führen und für sie herausfordernde Momente festzuhalten, und im steten Austausch mit betroffenen Personen wie Karin Rüedi soll ein ganzheitliches Bild der Problematik entstehen und es sollen umsetzbare Lösungsansätze entwickelt werden. Die Ergebnisse fliessen dereinst in einen Policy Brief, der an politische Entscheidungsträger gerichtet wird. Gantschnig betont: «Wir möchten, dass nicht nur über die erforderlichen Veränderungen nachgedacht, sondern die Basis für einen gesellschaftlichen Wandel geschaffen wird, damit alle die gleichen Chancen erhalten.»
Gantschnig beobachtet, dass der Ausbau der Barrierefreiheit auf verschiedenen Ebenen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. «Auf Bundesebene ist er am weitesten fortgeschritten. Auf kantonaler Ebene wird es schon schwieriger und besonders auf Gemeindeebene werden meiner Erfahrung nach die Prioritäten häufig so gesetzt, dass sie scheinbar für mehr Menschen einen Nutzen darstellen.» Dabei werde vergessen, dass gewisse Massnahmen nicht nur Menschen mit offensichtlichen Behinderungen zugutekommen, sondern auch Frauen und Männern mit Kinderwagen oder Gehhilfen, alten Menschen oder Personen mit chronischen Erkrankungen. «Wir betrachten alles, was die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einschränkt, als Behinderung», präzisiert die Leiterin Forschung und Entwicklung am Institut für Ergotherapie.
Rücksichtslose Mitmenschen
Vor zwei Jahren lief die Übergangsfrist für das Anfang der 2000er-Jahre in Kraft getretene Behindertengleichstellungsgesetz ab. Der Anpassungsbedarf im öffentlichen Verkehr ist jedoch nach wie vor enorm: So sind etwa über 60 Prozent der Bushaltestellen in der Schweiz noch immer nicht barrierefrei. ImProjekt«MOBILE» werden jedoch nicht nur diese grossen, offensichtlichen Probleme beleuchtet, sondern auch jene, bei denen mit verhältnismässig geringem Aufwand eine grosse Wirkung erzielt werden kann. Ein Beispiel: fehlende Handläufe an Treppen. Diese stellen auch für Karin Rüedi ein Problem dar, etwa wenn sie in der Tonhalle auf dem ersten Balkon zu ihrem Sitz kommen will. Dank einer Hausführung weiss die 66-Jährige zwar mittlerweile, welche Plätze geeignet für sie sind und wie sie sich im Haus orientieren kann. Doch ein Problem bleibt: «Das grösste Hindernis ist für mich die Rücksichtslosigkeit meiner Mitmenschen – ob in der Konzertpause oder auf dem Trottoir», stellt Rüedi klar. Das sei wohl auch der Punkt, der sich am langsamsten entwickle. Rüedi zeigt jedoch Verständnis für das fehlende Bewusstsein ihres Umfeldes: «Man kann nicht alles im Blick haben. Deswegen bin ich der Meinung, dass jede behinderte Person als Werbebotschafterin in eigener Sache fungieren soll.» Und ergänzt: «Ich versuche, freundlich auf mein Umfeld zuzugehen, damit irgendwann der gleiche Respekt zurückkommt. Auch wenn ich das selbst vielleicht nicht mehr erleben werde.» //