Jeder zehnte Mann wird nach der Geburt seines Kindes depressiv. Scham und fehlendes Wissen tragen dazu bei, dass nur ein Bruchteil von ihnen Hilfe erhält. An der ZHAW werden angehende Hebammen auf den Umgang mit belasteten Vätern vorbereitet.
von Eveline Rutz
Die Geburt eines Kindes gilt gemeinhin als grosses Glück. Aus einem Paar werden Eltern. Ihr Alltag, ihre Aufgaben und Rollen ändern sich. Von einem Tag auf den anderen steht das Neugeborene im Zentrum. Und die Erwartungen sind hoch: Die frisch gebackenen Eltern sollen die Zeit mit ihrem Baby geniessen. Dass sie sich zuweilen unsicher fühlen, Ängste haben und wenig schlafen, wird hingegen oft ausgeblendet.
«Alles Negative rund um Elternschaft wird nicht gerne thematisiert», sagt Katrin Oberndörfer, Dozentin am Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit. «Dabei stellt die Geburt eines Kindes ein kritisches Lebensereignis dar.» Tatsächlich erleben zahlreiche Frauen und Männer den Übergang ins Familienleben als belastend. Gemäss Studien erkranken rund 15 Prozent der Mütter an einer postpartalen Depression. Bei den Vätern sind es etwa zehn Prozent (siehe Box). Von einer hohen Dunkelziffer ist bei beiden Geschlechtern auszugehen.
Unglückliche Eltern schämen sich oft
Psychische Krankheiten seien immer noch stark stigmatisiert, gibt Katrin Oberndörfer zu bedenken. «Viele sprechen nicht gerne darüber – Männer noch weniger als Frauen.» Bis sich Betroffene Hilfe holen, dauert es meist lange. Das bestätigt auch Andrea Borzatta, Präsidentin des Vereins Postpartale Depression Schweiz: «Es braucht viel, bis man diesen Schritt macht.» Sich als Elternteil nicht rundum glücklich zu fühlen, sei äusserst schambehaftet. Gerade im Wochenbett hätten Betroffene zudem kaum die Energie und Zeit, sich aktiv Hilfe zu organisieren. «Sie sind schlicht zu erschöpft, um zum Beispiel eine Therapiestunde zu besuchen.»
Bei Männern komme hinzu, dass ihnen rund um die Geburt in erster Linie die Rolle der Unterstützer zugeschrieben werde. Vom sozialen Umfeld werde ihnen schnell einmal suggeriert, sie sollten sich zusammenreissen. «Da heisst es dann: Du hast ja kein Kind zur Welt gebracht.» Doch auch Väter seien mit hormonellen Veränderungen konfrontiert, erwähnt Borzatta. Das Bindungshormon Oxytocin nehme zu, während das männliche Hormon Testosteron vorübergehend reduziert werde. Dies könne depressive Stimmungen begünstigen.
Männer sollen keine Schwäche zeigen
Alessandro Barlocci weiss, mit welchen Erwartungen und Belastungen Väter konfrontiert sind. «Sich an eine Fachperson zu wenden, ist meist schon ein Schritt zur Besserung», sagt der Vätercoach aus dem Kanton Bern. Wer dies schaffe, habe noch genügend Ressourcen und den Willen, die Situation zu ändern. Viele Männer hätten ganz allgemein Mühe, über Probleme zu sprechen. Sie seien sich ihrer Emotionen zu wenig bewusst. «Wenn man nie gelernt hat, wie sich Trauer anfühlt und kein Wort dafür hat, dann kann man dieses Gefühl auch nicht ansprechen.» Das Bild, dass Männer keine Schwäche zeigen sollten, sei gesellschaftlich tief verankert. Betroffenen fehle manchmal auch die Einsicht, dass sie erkrankt seien. Einige flüchteten sich in den Alkohol oder konsumierten andere Suchtmittel. «Das wird dann überhaupt nicht mehr mit Geburtsthemen in Verbindung gebracht.»
Dass depressive Väter selten diagnostiziert werden, bestätigt Fabienne Forster, Psychologin und Forscherin auf diesem Gebiet. «Sie sind zu einem grossen Teil unsichtbar und unbehandelt.» Männer leiden zwar unter denselben Symptomen wie Frauen, reagieren allerdings anders. So stürzen sie sich beispielsweise in die Arbeit, in den Sport oder in andere Freizeitaktivitäten. Sie zeigen ein stereotypes Gesundheitsverhalten: «Männer nehmen weniger Hilfe in Anspruch, sie schämen sich eher dafür und ziehen sich schneller wieder zurück.» Dafür müsse das medizinische Personal sensibilisiert werden.
Hebammen beziehen ganze Familie ein
Im Bachelorstudiengang Hebamme an der ZHAW werden psychische Krankheiten thematisiert. 15 Lektionen sind für diverse Störungsbilder vorgesehen. Elf weitere Lektionen widmen sich der postpartalen Depression sowie der postpartalen Psychose. «In erster Linie geht es um die Mütter», berichtet Katrin Oberndörfer. Die mentale Gesundheit der Väter werde aber ebenso angesprochen. In ihrer täglichen Arbeit würden Hebammen sowieso das ganze Familiensystem einbeziehen. «Das soziale Umfeld hat einen grossen Einfluss», betont die Modulverantwortliche. Sei ein Elternpaar mehr oder weniger auf sich allein gestellt, laufe es eher Gefahr, psychisch krank zu werden. Auch eine traumatische Geburt oder gesundheitliche Probleme des Kindes zählen zu den Risikofaktoren. Leidet bereits die Mutter an einer Depression, werden 25 bis 50 Prozent der Väter ebenfalls depressiv.
Mit den Gefühlen von Vätern haben sich auch Olivia Früh und Anna Triulzi auseinandergesetzt. Die angehenden Hebammen schreiben in ihrer Bachelorarbeit, dass Männer stärker als Mitbetroffene wahrgenommen werden müssten, da sie sich oft ausgeschlossen fühlten. Während der Geburt erleben sie Angst, Hilflosigkeit und – insbesondere in medizinischen Notsituationen – einen Kontrollverlust. Bis zu acht Prozent entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung. «Das Gesundheitspersonal spielt eine relevante Rolle», so die Autorinnen. Wie es im Gebärsaal agiere und kommuniziere, wirke sich auf das psychische Wohlbefinden der Väter aus.
Expert:innen möchten regelmässige Tests
Postpartale Depressionen bei Männern seien an sich gut erforscht, sagt Katrin Oberndörfer. Es gebe zahlreiche internationale Studien. «Dieses Wissen ist in der Gesellschaft aber noch zu wenig verbreitet.» Fachleute sind sich einig, dass ein flächendeckendes Screening helfen würde, belastete Personen frühzeitig zu identifizieren. Werdende Eltern könnten ab dem ersten Kontakt in der Schwangerschaft regelmässig gebeten werden, einen Fragebogen wie die Edinburgh-Postnatal-Depressions-Skala (EPDS) auszufüllen. In England und Australien ist dies bereits Standard. Derartige Tests seien hilfreich, um das eigene Empfinden einzuschätzen, sagt Fabienne Forster. Ein gutes Resultat motiviere, positive Strategien aufrecht zu erhalten. Ein schlechtes Resultat mache einem deutlich, dass man etwas tun müsse. «Es kann eine Erleichterung sein, zu erfahren, dass man ernsthaft erkrankt ist – und sich nicht einfach schlecht fühlt.»
Ein standardisiertes Vorgehen könnte dazu beitragen, dass Väter gerade nach der Geburt nicht vergessen gehen. Bei einer traditionellen Rollenverteilung sind sie meist nach kurzer Zeit wieder beruflich eingebunden. «Unter Umständen haben Hebammen keinen Kontakt mehr zum Vater», sagt Katrin Oberndörfer. Sie können dessen Befinden dann einzig über die Mutter erfragen. Kommt hinzu, dass Hebammen Familien über einen beschränkten Zeitraum begleiten. Das Wochenbett endet häufig nach zehn Wochen.
ZHAW plant Angebot mit Hausbesuchen
Das ZHAW-Projekt «Early Mobile and Digital Care for Families» (EMDCF) will daran anschliessen. Eltern und ihre Säuglinge sollen während etwa drei Monaten im Rahmen von Hausbesuchen und Online-Sitzungen psychotherapeutisch unterstützt werden. «Wir arbeiten mit den Hebammen Hand in Hand», sagt Katrin Braune-Krickau, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Angewandte Psychologie. EMDCF wird von einem interdisziplinären Team der Fachgruppe Klinische Psychologie sowie dem Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit entwickelt. Finanziert wird es vom Kompetenznetzwerk Child and Youth Public Health Care (CYPHER).
«Sich rund um die Uhr um ein kleines Wesen zu kümmern, ist wahnsinnig anstrengend», sagt Braune-Krickau. Hebammen seien in den Familien präsent, würden Belastungen oft als erste erkennen und könnten den Zugang zum niederschwelligen Behandlungsmodell erleichtern. «Der Bedarf für ein solches Angebot ist riesig.» Werden psychische Störungen nicht angemessen behandelt, kann das langfristige Auswirkungen auf die ganze Familie haben. Die Partnerschaft, das Erziehungsverhalten und die Entwicklung der Kinder leiden. Und es besteht die Gefahr, dass weitere Familienmitglieder erkranken. «Es lohnt sich, Partner:innen in die Therapie einzubeziehen», sagt Psychologin Fabienne Forster. Sie findet, dass psychische Erkrankungen in der Arbeit mit werdenden Eltern stärker zur Sprache kommen sollten. Sie seien die häufigste Komplikation nach einer Geburt. Dennoch werde viel mehr über den plötzlichen Kindstod gesprochen. Katrin Oberndörfer erwähnt, dass werdende Eltern tendenziell auf das Schöne fokussieren. «Selbst wenn sie um die Krankheit wissen, denken viele ‹mir passiert das nicht›.»
Selbsthilfegruppe für Männer
Da sei noch viel Aufklärung nötig, betont Andrea Borzatta von Postpartale Depression Schweiz. «Eine Depression kann jeden treffen.» Sie rät Angehörigen und Freunden, Eltern direkt auf ihre psychische Verfassung anzusprechen. Man löse damit nichts aus, was nicht da sei. Mit spezifischen Angeboten richtet sich der Verein explizit auch an Väter. Diese haben etwa die Möglichkeit, sich – teilweise online – in Selbsthilfegruppen auszutauschen. Hier treffen sie auf andere Männer. Rund um die Geburt haben sie sonst vor allem mit weiblichen Fachpersonen zu tun.
Nach der Corona-Zeit werde etwas offener über mentale Gesundheit gesprochen, sagt Borzatta. Bei Frauen seien postpartale Depressionen weniger stigmatisiert als noch vor zehn Jahren. Bei Männern halte sich das Tabu hingegen hartnäckig. «Es ist noch ein weiter Weg.» Katrin Oberndörfer freut sich, wenn auch Prominente ehrlich über Mutter- oder Vaterschaft reden. Sie findet: «Der Mythos der stets glücklichen Eltern muss weiter entzaubert werden.» //
Wie äussert sich eine postpartale Depression?
Erschöpfung, das Gefühl innerer Leere, Wut oder Reizbarkeit können Anzeichen einer postpartalen Depression bei Vätern sein. Hinzu können Konzentrationsprobleme, Appetitlosigkeit, Libidoverlust sowie Schlafstörungen kommen. Halten solche Symptome für mindestens zwei Wochen an, kann eine depressive Episode vorliegen. Zur Diagnose wird unter anderem die Edinburgh-Postnatal- Depressions-Skala (EPDS) eingesetzt. Sie ist online zu finden, beispielsweise auf der Homepage von Postpartale Depression Schweiz.