«DABEI SEIN, WENN DAS BABY ENDLICH DA IST»

Kann das Baby im Mutterbauch etwas sehen? Wozu ist die Nabelschnur gut? Und was macht eigentlich eine Hebamme? In einem Pilotprojekt empfangen Dozentinnen und Studentinnen des Bachelorstudiengangs Hebamme Schulklassen in ihren Unterrichtsräumen und sensibilisieren sie dafür, dass Schwangerschaft, Geburt und Stillen natürliche Prozesse sind.

VON RITA ZIEGLER

Sandra Coldesina, Studentin im sechsten Semester des Bachelorstudiengangs Hebamme, zieht sich die Handschuhe über und spricht mit ruhiger Stimme auf ihre Mitstudentin, Samantha Domenici, ein. Diese krümmt sich auf dem Stuhl vis-à-vis, fasst sich an den runden Bauch, schreit auf, wischt sich den Schweiss von der Stirn. Dann entspannt sich ihr Gesicht – die Wehe ist vorüber. Die beiden Studentinnen simulieren eine Geburt. Um sie herum sitzen 22 Schülerinnen und Schüler einer sechsten Primarschulklasse aus Winterthur-Hegi und schauen gebannt zu. Einige haben sich auf den Boden gekniet, um die Szene besser zu beobachten. Kein unsicheres Kichern, keine vorpubertären Sprüche unterbrechen das Geschehen.

Die Primarschüler sind heute zusammen mit ihrer Lehrerin in die Skillsräume des Instituts für Hebammen gekommen, um von Hebammendozentinnen und -studentinnen in Diskussionen sowie anhand von Modellen zu erfahren, wie neues Leben entsteht. Das übergeordnete Ziel des Angebots sei berufspolitischer und präventiver Natur, sagt Dozentin Sandra Grieder. «Die Kinder sollen den Hebammenberuf kennenlernen und dabei möglichst früh erfahren, dass Schwangerschaft,Geburt und Stillen gesunde und natürliche Prozesse sind.» Und: Sie sollen ihre Fragen loswerden – denn davon gibt es viele. Ob das eigentlich wehtue, fragt ein Mädchen, als Sandra Coldesina nach der Geburtssimulation die Nabelschnur bei der Babypuppe durchtrennt. Die Studentin verneint. «In der Nabelschnur gibt es keine Nerven. Weder Mutter noch Kind spüren etwas.»

Lehrpersonen unterstützen
Ihre Kollegin Samantha Domenici staunt über den Wissensdurst der Schüler und freut sich, dass sie auf alles antworten kann. «Ich realisiere gerade, wie viel ich während meiner Ausbildung gelernt habe und nun weitergeben kann.» Allerdings sei es schwierig, nicht zu sehr ins Detail zu gehen und eine einfache Sprache zu benützen, so die 24-Jährige. Sie hat zusammen mit Sandra Coldesina eine Bachelorarbeit dazu verfasst, wie Hebammen in den Sexualkundeunterricht an Schulen einbezogen werden könnten. «Der Sexualerziehung wird in vielen Kantonen nicht genügend Bedeutung zugeschrieben und Lehrpersonen werden auch nicht spezifisch dafür ausgebildet», sagt Domenici. «Mit ihrem Fach- und Erfahrungswissen könnten Hebammen hier Unterstützung bieten.» Was ihnen dazu fehle, sei die pädagogisch- didaktische Seite. Dafür bräuchte es eine Weiterbildung.

Dorfhebamme auf Schulbesuch
Das Bedürfnis von Lehrpersonen, Fachpersonen einzubeziehen, wenn Themen wie Schwangerschaft und Geburt auf dem Lehrplan stehen, kennt Dozentin Therese Hailer. Sie wirkt ebenfalls beim Projekt mit. An ihrem Wohnort, im appenzellischen Stein, geht sie in sämtliche Klassen, um die Schüler in die Geheimnisse rund um die Geburt einzuweihen – unentgeltlich. «Ich werde nun schon von zwei Generationen als Dorfhebamme wahrgenommen und bin überzeugt, dass die Kinder wissen, was meine Arbeit umfasst», sagt sie. «Das rege Interesse der Schüler freut mich sehr. Und die Themen, die wir im Unterricht aufgreifen, werden zu Hause weiterdiskutiert.»

Auch die Schülerinnen
und Schüler aus Winterthur-Hegi haben sich als Vorbereitung mit ihren Eltern über ihre Geburt unterhalten. Im Unterricht an der ZHAW erzählen sie sich gegenseitig davon und zeigen sich Fotos aus den ersten Lebenstagen. Wie das Kind in der Gebärmutter heranwächst, erfahren sie anschliessend von den Fachfrauen. Diese wenden bewusst altersgerechte Lernmethoden an: An lebensechten Simulationspuppen können die Schüler die Lage des Babys im Mutterbauch ertasten und seine Herztöne abhören. Und mit einem umgeschnallten Babybauch erleben sie am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, schwanger zu sein.

Aus Pilot soll festes Angebot werden
Der Besuch der Schulklasse ist Teil des Sexualkundeunterrichts, den Lehrerin Debora Dürst in der sechsten Primarstufe durchführt. Auf die Freimütigkeit ihrer Schützlinge angesprochen, lacht sie: «Wir haben viele Enthemmungsübungen gemacht und oft spiegelt sich im Verhalten der Schüler auch, wie gelassen und natürlich man sich selbst verhält.» Sie empfand den Morgen als spannend und abwechslungsreich, gerade dank der vielen praktischen Anteile. «Ich würde ihn anderen Lehrpersonen sofort weiterempfehlen.»

Am Institut für Hebammen überlegen sich die Verantwortlichen, das Angebot, das bisher zweimal als Pilot durchgeführt wurde, zu institutionalisieren und es in den Lehrplan des Bachelorstudiums zu integrieren. «Für die Studentinnen ist es eine gute Übung, ihr Wissen didaktisch aufzubereiten und stufengerecht weiterzugeben», sagt Sandra Grieder. «Zudem haben wir mit den vielen Modellen hier ein ideales Unterrichtsumfeld.»

Die Primarschüler jedenfalls zeigen mit ihrer Neugier und der aktiven Beteiligung am Unterricht, dass das Konzept passt. Während die Knaben – halb ernsthaft, halb zum Spass – den Geburtsprozess nochmals nachstellen, wickeln die Mädchen unter Anleitung Säuglingspuppen und wiegen sie liebevoll in den Schlaf. Sie könne sich gut vorstellen, selbst Hebamme zu werden, sagt Silvana, die vor Kurzem gerade einen kleinen Bruder bekommen hat. Ihre Sitznachbarin zögert: «Kinderbetreuerin wäre auch toll.» Danach gefragt, was ihnen am Hebammenberuf denn besonders gefallen würde, antworten die beiden einhellig: «Dabei sein, wenn das Baby endlich da ist.» //

«Vitamin G», Seite 30-31


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