Bye-bye Nackenschmerzen!

Wer im Büro stundenlang am Bildschirm arbeitet, hat häufig mit Verspannungen im Schulter- und Nackenbereich zu kämpfen. Ein wissenschaftlich erarbeitetes Programm verspricht Besserung.

Andrea Söldi

Rund 80 Prozent ihrer Arbeitszeit verbringt Eveline Kull am Computer. Die administrative Mitarbeiterin am Departement Linguistik der ZHAW leidet immer mal wieder unter Verspannungen im Nacken-Schulter-Bereich und schluckt deshalb auch gelegentlich ein leichtes Schmerzmittel. «Es ist nie so schlimm, dass ich deswegen nicht arbeiten kann», sagt die 59-Jährige. «Aber lästig ist es schon.» Besonders empfindlich reagiere sie auf Durchzug.

Sehr gern stellte sie sich deshalb für das Forschungsprojekt NEXpro (Prävention und Intervention von Nackenschmerzen bei Büroangestellten in der Schweiz) zur Verfügung, das ein Team unter der Leitung des Departements Gesundheit der ZHAW in den letzten beiden Jahren durchführte. Dabei wurde untersucht, wie gut eine Kombination von spezifischen Kraftübungen, ergonomischen Massnahmen und gesundheitlichen Informationen arbeitsbedingte Nackenprobleme zu reduzieren vermag. Die Interventionen wurden an 120 Teilnehmenden der Kantonsverwaltung Aargau sowie in zwei Departementen der ZHAW getestet. Das Interesse an der Teilnahme war so gross, dass es eine Warteliste gab.

Der Körper braucht Bewegung

Auf einem Fragebogen erfassten die Proband:innen zu Beginn und danach weitere vier Mal ihren Gesundheitszustand bezüglich Nacken- und Kopfschmerzen und schätzten ihre Produktivität ein. Das Programm wurde in drei Durchgängen mit je 40 Personen durchgeführt, sodass die Angaben über Beschwerden mit Gruppen verglichen werden konnten, die noch nicht teilgenommen hatten.

Zu Beginn ging Projektmitarbeiterin Andrea Aegerter an den einzelnen Arbeitsplätzen vorbei und stellte die Büromöbel gemäss neuesten ergonomischen Erkenntnissen ein (siehe Box). Teilweise habe sie nicht viel verändern müssen, sagt die Physiotherapeutin, die im Rahmen von NEXpro am Institut für Public Health promoviert hat. In einigen Fällen habe sie aber zu hoch positionierte Bildschirme angetroffen, teilweise mit Büchern oder Familienfotos darunter. Auch die Bürostühle seien nicht überall optimal eingestellt gewesen. «Viele wissen gar nicht, wie sie die Position der Sitzfläche und der Lehne verändern können.» Die ergonomischen Grundsätze dürften aber nicht überbewertet werden, betont Aegerter. In der Vergangenheit habe die strikte Befolgung bisweilen dazu geführt, dass viele Menschen eine allzu starre Haltung eingenommen haben. «Der Körper braucht Bewegung», betont sie. «Regelmässig aufstehen, sich strecken und einige Schritte gehen ist effektiver als eine Einstellung der Büromöbel mit dem Massstab.»

Übungen für Kraft und Entspannung

Während dreier Monate durften die Büroangestellten in der Arbeitszeit einen wöchentlichen Workshop besuchen. Dabei wurden gesundheitliche Inputs vermittelt zu anatomischen Grundlagen, psychischen Aspekten wie Selbstwertgefühl, Selbstmotivation oder Stress- und Konfliktmanagement. Zur Sprache kamen aber auch die Ernährung, die Rolle von digitalen Medien und Entspannungstechniken. So lernten die Teilnehmenden zum Beispiel, dass die Nackenmuskeln stark beansprucht werden, wenn man den bis zu sechs Kilogramm schweren Kopf Richtung Bildschirm hervorstreckt oder auf das Smartphone herunterblickt.

Zudem führte die Gruppe unter genauer Anleitung Übungen aus, die die Nacken- und Schulterpartie kräftigen und entspannen. Es standen 16 Übungen zur Auswahl, von denen je nach Beschwerden unterschiedliche durchgeführt wurden. Um das Gelernte längerfristig zu festigen, konnten die Teilnehmenden eine App herunterladen, auf der die Übungen per Video hinterlegt sind. Sie führten darin Buch über ihre Übungssequenzen und wurden per Push-Nachricht erinnert. Im Idealfall trainierten sie wöchentlich dreimal während 20 Minuten.

Produktiver bei der Arbeit

«Nackenschmerzen und Verspannungen sind ein häufiger Grund für eingeschränkte Produktivität bei der Arbeit», sagt Andrea Aegerter. Gemäss Auswertung der Fragebögen beträgt der Produktivitätsverlust aufgrund von Nackenschmerzen 12 Prozent. Von diesen 12 Prozent sind 2 Prozent auf sogenannten Absentismus zurückzuführen – wenn Büroangestellte wegen ihrer Beschwerden zu Hause bleiben oder früher Feierabend machen. Bei den restlichen 10 Prozent handelt es sich um Präsentismus, also zum Beispiel um Konzentrationsstörungen und unproduktive Stunden am Arbeitsplatz. «Präsentismus ist deutlich häufiger als Absentismus, fällt aber weniger auf», erklärt die Forscherin. «Die Arbeitgebenden unterschätzen dieses Problem.»

Kopfschmerzen reduzieren

Mit der Intervention konnten die Produktivitätsverluste von 12 auf 9 Prozent gesenkt werden. Mindestens so wichtig sei aber das bessere Befinden der Teilnehmenden, stellt Aegerter klar. «Viele hatten danach weniger Schmerzen.» Zu Beginn der Studie hatten 79 Prozent der Teilnehmenden angegeben, dass sie mehr als einmal pro Monat unter Nackenschmerzen oder Verspannungen litten. Bei den Kopfschmerzen waren es 73 Prozent. «Der grosse Anteil an Kopfschmerzen hat uns überrascht und weist auf einen grossen Zusammenhang hin», sagt Markus Ernst, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Physiotherapie. Unklar sei jedoch, ob Nackenschmerzen zu Kopfschmerzen führen oder eher ein häufiges frühes Begleitsymptom sind. Migräne und Spannungskopfschmerzen kündigen sich in vielen Fällen mit Nackenschmerzen an.

Viele Kopfschmerz-Betroffene unter den NEXpro-Teilnehmenden konnten den Kopf nicht frei drehen wie etwa beim Neinsagen. «Den Nacken fit zu machen, ist deshalb sicher ein guter Ansatz, da er eine potenzielle Schmerzquelle für Kopfweh ist», sagt der Projektmitarbeiter bei NEXpro. Dass Büromenschen häufiger unter Kopfschmerzen leiden als andere Berufsangehörige, hält er für naheliegend: «Zwar haben auch körperlich schwer arbeitende Leute manchmal Stress, doch mit der körperlichen Bewegung können sie ihn wohl besser abbauen.»

Das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Forschungsprojekt wird derzeit ausgewertet und nächstes Jahr abgeschlossen. Neben dem Departement Gesundheit der ZHAW sowie dem Institut für Gesundheitsökonomie der ZHAW waren diverse Partner:innen beteiligt, unter anderem die Universität Bern, wo ein Folgeprojekt geplant ist. Dabei soll untersucht werden, ob die Interventionen auch wirksam sind, wenn sie komplett online durchgeführt werden.

Immer dranbleiben

Programm-Absolventin Eveline Kull hat die Teilnahmemöglichkeit sehr geschätzt. «Ich habe vor allem von den Übungen profitiert», blickt sie zurück. Als sie pandemiebedingt zuhause arbeitete, nahmen die Beschwerden aber eher wieder zu, wahrscheinlich weil sie sich dabei weniger bewegte. Sie begann dann wieder regelmässig zu üben, worauf eine klare Besserung eintrat. Zudem hat sie sich vorgenommen, zwischendurch immer mal wieder den Kopf hin- und her zu drehen, die Schultern zu lockern – und zu gähnen. «Das sorgt für Sauerstoff und entspannt den Kiefer.» Sie steht auch häufig auf, etwa um ein Blatt aus dem Drucker zu holen, und treckt sich dann gleich ein wenig durch. Seither habe sie etwas weniger Schmerztabletten gebraucht, sagt die administrative Mitarbeiterin. «Ich muss mich halt selber an der Nase nehmen und die Übungen regelmässig durchführen.» //


Besser sitzen

Wenn Sie viele Stunden am Tag am Bürotisch verbringen, lohnt es sich, den Arbeitsplatz optimal einzurichten. Dabei sind folgende Punkte wichtig:

  • Bürostuhl: Die Sitzfläche so einstellen, dass die Knie einen rechten oder leicht grösseren Winkel aufweisen. Auch zwischen Oberschenkel und Rücken ist ein Winkel von etwas mehr als 90 Grad ideal. Ist die Rückenlehne mit einer Vorwölbung im unteren Bereich ausgestattet, auch Lordosenstütze genannt, sollte diese so platziert werden, dass sie die natürliche Form der Wirbelsäule im Kreuzbereich stützt.
    Zwischendurch – etwa beim Austausch mit einer Bürokollegin – darf man die Lehne auch in die Wipp­Position bringen oder bequem nach hinten geneigt fixieren und eventuell die Beine hochlegen.
    Für längeres Arbeiten ist die Liegestuhl­Position jedoch ungünstig, weil sie zu einer Fehlbelastung des oberen Rückens und des Nackens führen kann.
  • Tisch: Die Tischplatte soll auf Höhe der Ellbogen liegen bei locker hängenden Armen. Falls möglich, sollte man gelegentlich im Stehen arbeiten.
  • Bildschirm: Die obere Kante sollte eine Hand breit unter der Augenhöhe liegen, sodass Kopf und Augen entspannt leicht abwärts geneigt sind.

Mindestens so wichtig wie gut eingestellte Büromöbel sei die regelmässige Bewegung, sagt Corinne Nicoletti, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Public Health der ZHAW. Um sich selber Anreize zu setzen, empfiehlt sie Kniffe wie etwa den Abfalleimer oder Unterlagen etwas weiter weg vom Tisch zu platzieren oder sich nur ein kleines Glas Wasser zu holen, damit man es immer wieder auf ­ füllen muss. «Sitzen wird auch als das neue Rauchen bezeichnet», sagt die Ergonomie­Expertin. Wenn man den ganzen Tag sitzt, könne man negative Folgen mit einer Sporteinheit am Abend nicht wieder gutmachen. «Es braucht häufige Veränderungen der Körperhaltung und viele kurze Bewegungspausen.»

Vitamin G, S. 13-15


Weitere Informationen

Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


1 Kommentar

  • Als jemand, der einen Großteil des Tages am Schreibtisch verbringt, finde ich den Beitrag äußerst hilfreich. Es ist beruhigend zu wissen, dass es von großer Bedeutung ist, regelmäßige Bewegungspausen einzulegen und ergonomische Prinzipien zu berücksichtigen, um eine gesunde Körperhaltung zu unterstützen. Vor allem war mir nicht bewusst, dass die Tischplatte idealerweise auf Höhe meiner Ellbogen sein sollte.


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