BRÜCKENBAUERIN ZWISCHEN DEN KULTUREN

In der Pflege, aber auch in anderen Gesundheitsberufen ist das Verständnis für andere Kulturen extrem wichtig. Am Departement Gesundheit ist Susan Schärli für das Thema zuständig. Bei ihrem persönlichen Hintergrund ist das naheliegend.

VON ANDREA SÖLDI

Wie verhalte ich mich in Konflikten? Explodiere ich oder bleibe ich ruhig? Sage ich klipp und klar meine Meinung oder rede ich durch die Blume? Mit solchen Themen setzten sich im September Studierende an der Summer School der Fachhochschule Bern auseinander. «Wer seinen eigenen Konfliktstil kennt, kann besser auf andere zugehen», erklärt Dozentin Susan Schärli. Die 46-Jährige ist am Institut für Pflege der ZHAW für internationale Beziehungen verantwortlich. Als Expertin für interkulturelle Kommunikation ist sie zudem auch eine gefragte Referentin in Weiterbildungen und Workshops anderer Institutionen.

An verschiedenen Orten daheim
Aufgrund ihrer Biografie ist die gelernte Pflegefachfrau geradezu prädestiniert für das Thema. Ihre Mutter stammt aus Holland, der Vater aus China. Kennengelernt haben sich die Eltern in Australien, wo auch Tochter Susan geboren wurde. Diese ist dann in Holland und Belgien aufgewachsen, kehrte aber für das Pflegestudium nach Australien zurück. Die Liebe zu einem Schweizer führte sie vor 17 Jahren nach Brugg, wo sie heute noch lebt. Schärli spricht sehr gut Deutsch – auch Dialekt –, beides mit einem charmanten englischen Akzent.

«Ich bin an verschiedenen Orten daheim und fühlte mich auch hier schnell wohl», sagt die quirlige Frau. Dennoch sei sie zu Beginn in einige Fettnäpfchen getreten. Sie habe erfahren müssen, dass schwarzer Humor hierzulande nicht überall gut ankommt. Und bei der Arbeit wunderte sie sich anfangs darüber, dass im Pflegeteam so  lange diskutiert wird, bis man einen Konsens findet. Von Australien her war sie sich gewohnt, dass die Mehrheit das Sagen hat und man schnell zu Entscheidungen kommt. Endlos scheinende Teamsitzungen strapazierten hier manchmal ihre Geduld. Später erst hat sie erkannt, wie wertvoll es ist, wenn am Ende alle hinter dem Entschluss stehen und ihn mittragen.

Verständnis vermeidet Kosten
Die breite Palette an Umgangsformen in verschiedenen Ländern findet Schärli faszinierend. Dennoch warnt sie vor Generalisierungen und Stereotypen. Kultur sei keinesfalls nur von der Ethnie und Nationalität geprägt, sondern ebenso von Kategorien wie dem Geschlecht, dem Bildungsniveau, dem sozioökonomischen Status sowie dem individuellen Temperament. So hatte sie es zum Beispiel auch schon mit einer Japanerin zu tun, die sehr direkt kundtat, was ihr nicht passte – eine ziemlich untypische Art für diese Nationalität. Dagegen kam es bei Kontakten mit der Partnerhochschule in Japan zu Verstimmungen, weil die Schweizer Austauschstudierenden ihr Feedback zum Unterricht in gewohnt offener und deutlicher Manier gaben.

Das Fachgebiet Interkulturelle Kommunikation wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erforscht. Ziel war eine bessere Verständigung zwischen den Völkern. Auf Anregung des Berner Bildungszentrums Pflege hat Schärli vor acht Jahren begonnen, sich intensiv mit dem Thema zu befassen. Gerade in Gesundheitsberufen seien interkulturelle Kompetenzen von grösster Wichtigkeit, betont die Fachfrau. «Es entstehen enorme Kosten, weil wir den Hintergrund der Patientinnen und Patienten oft zu wenig berücksichtigen.» Ein typisches Beispiel hat sie während ihrer Tätigkeit in der Neurorehabilitation erlebt: Eine ältere Asiatin, die gut Englisch sprach, machte nach einem Hirnschlag relativ gute Fortschritte. Sie lernte, wieder selbständig für sich zu sorgen, und konnte nach Hause. Einige Monate später musste sie aber mit starken Kontrakturen erneut hospitalisiert werden. Die Familie hatte die Frau rundum umsorgt und ihr alles abgenommen – ein Ausdruck von Respekt gegenüber Kranken und Älteren in der asiatischen Kultur. Jedoch hatten sich die Muskeln und Sehnen durch die mangelnde Aktivität verkürzt. Mit besserer Kommunikation und stärkerem Einbeziehen der Angehörigen hätte man einen Rückschlag möglicherweise vermeiden können, glaubt Schärli.

Für Migrantinnen und Schweizer
In der Pflegeausbildung sind interkulturelle Kompetenzen nicht nur für den Umgang mit Migrantinnen und Migranten wichtig. Wer sich seiner eigenen Werte und Eigenarten bewusst sei, könne auch Schweizer Patienten besser pflegen, ist sich Schärli sicher. Zum Beispiel sollten Pflegende eine Ahnung davon haben, welchen Stellenwert Gesundheit für ihre Patienten hat, wie in ihrem Umfeld mit Kranken umgegangen wird und welchen Status Gesundheitsfachleute geniessen. Solche Aspekte werden in der sogenannten transkulturellen Anamnese erhoben, einem Verfahren, das im Bachelorstudium Pflege an der ZHAW vermittelt wird.

Dabei müsse man keineswegs alles Fremde gutheissen, betont Schärli. Sie kann verstehen, wenn Pflegende die Unterdrückung von Frauen oder eine passive Konsumhaltung ihrer Patienten missbilligen. Wichtig sei, sich mit den Motivationen und Gesellschaftskonzepten dahinter zu befassen. «Dies hilft, Brücken zu bauen.» Doch der Ansatz fasse im Gesundheitswesen erst sehr zögerlich Fuss. Wichtige Player haben den Handlungsbedarf nun erkannt. Das Bundesamt für Gesundheit unterstützt zum Beispiel das Projekt Swiss Equity Hospitals, mit dem es allen Bevölkerungsgruppen eine qualitativ hochstehende Versorgung bieten will.

Gelerntes weitergeben
Diesen Frühling hat Schärli in den USA ihren Mastertitel in interkulturellen Beziehungen erworben. In ihrer Abschlussarbeit hat sie ein Modul entwickelt, das es Austauschstudierenden am Institut für Pflege ermöglicht, interkulturelle Kompetenzen zu trainieren. «Dank der Praxisnähe kann ich meine Erkenntnisse daraus direkt umsetzen», freut sich die Dozentin.

In der Summer School in Bern haben sich die Studierenden mittlerweile im Klassenzimmer verteilt. Je nach Konfliktstil stehen sie in verschiedenen Ecken und erläutern die Vor- und Nachteile ihres Verhaltens. Unter der Moderation der Dozentin entwickelt sich eine lebhafte Diskussion zwischen den Gruppen. Eine junge Frau aus der expressiv-direkten Ecke fordert die Leute in der anderen Zimmerhälfte heraus: «Wenn ich deine Emotionen nicht spüre, macht mich das rasend.» Von dort fragt eine andere Frau zurück: «Würde es dir helfen, wenn ich meine Gefühle beschreibe? Wenn ich zum Beispiel sage: Jetzt werde ich wütend?» Genau darum gehe es, freut sich Susan Schärli. «Ich liebe es, wenn wir beginnen, nach Lösungen zu suchen.»

«Vitamin G», Seite 10-13


SUSAN SCHÄRLI

  • BSc in Krankenpflege in Australien
  • MA Intercultural Relations in den USA
  • Dozentin und Verantwortliche International Relations am ZHAW Institut für Pflege, davor Pflegefachfrau und Berufsschullehrerin
  • Vizepräsidentin und ab April 2018 Präsidentin des europäischen Pflege- und Hebammennetzwerks Florence Network

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