Vom Nischenphänomen zur weit verbreiteten Freizeitaktivität: Gamen ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Doch wie viel «zocken» ist gesund? Das hängt ganz vom jeweiligen Motiv ab, weiss Game-Experte Florian Lippuner.
Ein paar Level Candy Crush auf dem Klo, einige Runden Online-Fussball nach der Arbeit: Gamen ist längst nicht mehr nur eine Freizeitbeschäftigung von Kindern und Jugendlichen. So liegt das Durchschnittsalter von Gamer:innen in der Schweiz bei über 30 Jahren; gezockt wird in allen Altersklassen, Bildungsschichten und Lebensmilieus. Kurzum: Games sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Gleichzeitig halten sich hartnäckig einige Vorurteile gegenüber Videospielen. Eines davon: Zu viel Gamen ist schädlich. Die Zeit, die jemand in virtuellen Welten verbringt, ist allerdings nur bedingt ein Indikator für einen gesunden beziehungsweise ungesunden Umgang mit Games. Viel zentraler ist, warum jemand spielt. Die Motive sind dabei so vielfältig wie das schier unendliche Spielangebot. Das Hauptmotiv ist natürlich Unterhaltung und Spass. Doch auch andere Faktoren können wichtig sein: soziale Kontakte, Erfolgserlebnisse, Ablenkung oder Herausforderungen.
Kompensation ist problematisch
Problematisch wird es, wenn Games zur Kompensation gespielt werden, also, um etwas zu verdrängen oder zu ersetzen, das im realen Leben nicht funktioniert. Das können zum Beispiel Konflikte, Unzufriedenheit, Über- oder Unterforderung sein. Diese Probleme lassen sich nicht «wegspielen» – exzessives Gamen führt dann zwangsläufig in einen Teufelskreis. Problematisches Gamen ist also meistens ein Symptom für bestehende Probleme, Konflikte oder andere Stressoren. Das zeitliche Einschränken oder gar Verbieten des Spiels bringt in solchen Situationen nichts – die Ursachen bestehen weiter. Vielmehr müssen die Probleme an der Wurzel gepackt und gelöst werden. Dann normalisiert sich auch das Nutzungsverhalten wieder. Ich habe das im Rahmen meiner Forschung zigfach beobachtet.
Gesamtbild im Blick behalten
Bei uns selbst, aber auch bei unseren Kindern, ist es deshalb wichtig, das Gesamtbild im Blick zu behalten. Statt den Fokus nur aufs Gamen zu legen, sollten wir unseren Alltag regelmässig aus der Vogelperspektive betrachten. Und uns fragen: Welchen Stellenwert hat das Gamen darin eigentlich, welche Funktionen erfüllt es? Passt das alles noch zusammen oder verdrängen Videospiele andere wichtige Bereiche? Gamen ist dann gesund, wenn es als Ergänzung zum Alltag fungiert, als ein Puzzleteil unter vielen. Dann kann es positive Effekte haben, etwa auf Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen, aber auch auf Reaktionsfähigkeit und Motorik. Das trifft auch auf die vielen E-Sportler:innen zu, für die das wettbewerbsmässige Gaming nicht ein Ersatz ist, sondern Komponente eines erfüllten Alltags. Und das mit oftmals viel höheren «Nutzungsdosen» als manch ein:e Spieler:in mit problematischen Nutzungsmotiven. Paracelsus Leitspruch «Die Dosis macht das Gift» gilt beim Thema Gamen also nur bedingt. Die Zeit, die jemand mit Spielen verbringt, sagt wenig über die Qualität des Spielverhaltens aus. Und viel zu spielen bedeutet nicht automatisch Sucht. Umgekehrt können auch Gelegenheitsspieler ungesunde Verhaltensweisen an den Tag legen. Die Stoppuhr können Sie beim Gamen also getrost weglegen.