Beate Krieger hat in ihrer Doktorarbeit untersucht, wie das Umfeld Jugendliche mit Autismus Spektrum Störung (ASS) unterstützen kann, mehr am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die Familie ist dabei genauso wichtig wie Gleichaltrige oder Vereine.
Von Annina Dinkel
Frau Krieger, weshalb dreht sich Ihre Forschung um Partizipation?
Beate Krieger: Jugendliche im autistischen Spektrum nehmen deutlich weniger am sozialen Leben teil als andere Teenager. Partizipation, also Teilhabe, ist aber ein Menschenrecht. Positiv erfahrene Partizipation, sei es in der Familie, in der Schule oder im gesellschaftlichen Umfeld, fördert das Wohlbefinden und die Selbständigkeit und gilt als Schlüsselkomponente für eine erfolgreiche Arbeitsaufnahme. Ausserdem wirkt sie präventiv gegen Vereinsamung, Ängste und Depressionen.
In Ihrer Doktorarbeit fokussierten Sie auf das Umfeld. Können Sie ein Beispiel nennen, das dessen Bedeutung aufzeigt?
Klar. Nehmen wir die Geschichte eines Jungen, nennen wir ihn Luc, der zu mir in die Ergotherapie kam. Der damals Zwölfjährige ging gemeinsam mit seiner Schwester ins Taekwondo. Eines Tages zeigte mir seine Mutter eine SMS, die der Teakwondo-Trainer Lucs Teamkolleg:innen geschickt hatte. Der Trainer bat die Kinder, sich in Lucs Lage zu versetzen, der oft gemieden und ausgegrenzt wurde. Er fragte sie, ob sie unter diesen Umständen weiterhin ins Training kämen, und lobte Lucs Durchhaltewillen, seine Treue und Zuverlässigkeit.
Wie haben die Jugendlichen reagiert?
Sie bezogen Luc tatsächlich mehr mit ein und sprachen ihn offener an, wenn sie etwas störte. Zudem motivierte der Trainer Luc, sich für die Paralympics anzumelden. Heute reist er an Meisterschaften in ganz Europa, begleitet von seinem Trainer und jeweils einem Teammitglied.
Was zeigt Lucs Geschichte?
Dass ein unterstützendes Umfeld viel bewirken kann. Angefangen bei Lucs Schwester, die ihn als vertraute Person begleitet – ein Faktor, der absolut essenziell ist, damit Jugendliche mit ASS partizipieren. Über den Trainer, der Lucs Anstrengungen wertschätzte und ihm viel Sicherheit bot. Bis hin zu den Jugendlichen, die ihre Haltung Luc gegenüber überdacht haben.
Was sind die Hebel, um Partizipation zu fördern?
In meiner Doktorarbeit habe ich sieben Aspekte herausgearbeitet, die für die Partizipation von Jugendlichen mit ASS wichtig sind: das elterliche und familiäre Umfeld, das soziale Umfeld, angepasste Informationen, Motivation, die physikalische Umwelt, Einstellungen sowie Services und Dienstleistungen.
Welche sind am wichtigsten?
Das elterliche und familiäre Umfeld. Allerdings muss gerade dieses entlastet werden. Denn die Eltern setzen bereits alle ihre Ressourcen ein, um ihr Kind zu unterstützen. Dabei müssen sie priorisieren – neben der Schule und der Partizipation am Familienleben kommt die gesellschaftliche Teilhabe oft zu kurz. Das soziale Umfeld, vor allem Gleichaltrige, ist ebenfalls sehr wichtig. Dieses erleben Jugendliche mit ASS zwar in der Schule, jedoch kaum ausserhalb in Form von Freundschaften oder Begegnungen mit Kindern aus der Nachbarschaft.
Was verstehen Sie unter den anderen Aspekten?
«Angepasste Informationen» bedeutet, dass Jugendliche mit ASS klare und detaillierte Informationen benötigen, um sich auf Unbekanntes wie eine Freizeitaktivität einzulassen. Der Aspekt «Motivation» ist bisher wenig erforscht. Jugendliche mit ASS partizipieren nicht automatisch, da jeder neue Bereich viel Unbekanntes birgt. Da sie jedoch gern mit vertrauten Personen zusammen sind, können diese sie zu gemeinsamen Aktivitäten motivieren. Darüber hinaus können die Jugendlichen auch über ihre spezifischen Interessen, ihr ausgeprägtes Pflichtgefühl oder ihre Freude an der Regelmässigkeit motiviert werden.
Was meinen Sie mit «physikalischer Umwelt» und «Einstellungen»?
Bei der «physikalischen Umwelt» geht es darum, dass Personen mit ASS Sinneseindrücke wie Lärm oder Licht oft stärker wahrnehmen. Wichtig ist daher, dass sie diese regulieren können. Der Aspekt «Einstellungen» bezieht sich auf Haltungen und negative Vorurteile gegenüber Menschen mit ASS. Wie solche Einstellungen beeinflusst werden können, zeigt das Beispiel von Luc sehr gut auf.
Wann kommen Fachpersonen ins Spiel?
Beim letzten Aspekt «Services und Dienstleistungen». In der Schule ist bereits ein gewisses Grundwissen vorhanden, um die Teilhabe von Jugendlichen mit ASS zu fördern. Zu Hause und im öffentlichen Umfeld gibt es neben den Eltern jedoch niemanden, der dafür zuständig ist, Jugendliche mit ASS zum Beispiel zur Körperpflege zu ermahnen, mit ihrem Volleyballtrainer zu kommunizieren oder mit ihnen ins Kino zu gehen. Deshalb braucht es ergänzende Dienstleistungen. Ergotherapeut:innen und Sozialarbeitende können dabei eine Rolle spielen, aber auch Organisationen wie die Pfadi, Sportvereine oder öffentliche Dienste wie die SBB. Sie bräuchten jedoch Anlaufstellen, um sich zu informieren, wie sie mit Jugendlichen mit ASS umgehen können.
Wie geht es nun weiter?
Mir schwebt unter anderem vor, die Erkenntnisse praktisch nutzbar zu machen. In einer Umfrage im Rahmen meiner Doktorarbeit nannten Eltern insgesamt 600 Strategien, um Kinder mit ASS beim Partizipieren zu unterstützen. Ein Beispiel war etwa, dass sie Aktivitäten wie einen Konzertbesuch auf eine halbe Stunde beschränken, um die Kinder sensorisch nicht zu überreizen. Solches Wissen möchte ich in einem Interventionsansatz systematisieren – für Ergotherapeut:innen, aber auch für andere Personen, die mit diesen Jugendlichen zu tun haben. //