In der Arbeit von Gesundheitsfachpersonen spielen Schmerzen eine zentrale Rolle. Doch wo liegen ihre Ursachen? Und wie lassen sich verschiedene Schmerztypen am besten behandeln? Im interprofessionellen CAS «Schmerz Basic» lernen Teilnehmende die Komplexität des Themas kennen – und erwerben die Kompetenzen, um Schmerzen richtig einzuordnen und zu behandeln sowie anspruchsvolle Fälle berufsübergreifend zu koordinieren.
VON TOBIAS HÄNNI
Wattebäuschchen kommen zum Einsatz. Aber auch Hämmer, Zahnstocher, Stimmgabeln und Metallstifte. Mit den Gegenständen klopfen, streichen und piksen die rund 30 Frauen und Männer an diesem spätsommerlichen Freitagnachmittag in einem Unterrichtsraum des Departements Gesundheit einander auf und über verschiedene Körperstellen. Spürt das Gegenüber die sanfte Berührung des Wattebausches oder das leichte Piksen des Zahnstochers auf dem Handrücken? Nimmt es die Kälte des Metallstifts auf dem Unterarm wahr? Schlägt der Unterschenkel aus, wenn der Reflexhammer den richtigen Nerv am Knie trifft? «Die Teilnehmenden üben verschiedene Tests, mit denen bei Patientinnen und Patienten eine Überempfindlichkeit, aber auch eine Reduktion der Reizempfindung abgeklärt werden kann», sagt Physiotherapeutin und Dozentin Irene Wicki, die den zweitägigen Kurs «Current Clinical Topic Schmerz: Link zwischen Neurowissenschaften und klinischer Präsentation» leitet. Eine – teils schmerzhafte – Überempfindlichkeit des Gewebes auf mechanische oder thermische Reize, in der Fachsprache Gain of Function genannt, kann laut Wicki in einer frühen Phase der Wundheilung etwa nach operativen Eingriffen oder Sportverletzungen auftreten. Ein sogenannter Loss of Function, also eine reduzierte Empfindung von schmerzhaften Reizen, kann seine Ursache dagegen in einer Verletzung der Nerven haben, deren Regeneration normalerweise länger dauert als die von Gewebe, Bändern oder Knochen. Die Tests, welche die Kursteilnehmenden aneinander durchführen, zeigen demnach nicht nur das Ausmass eines Miss- respektive Schmerzempfindens auf, sondern lassen auch Rückschlüsse auf deren Ursachen zu – was wiederum zentral für die richtige Behandlung ist.
«Ich vermittle den Teilnehmenden die Prozesse und möglichen Ursachen, die sich hinter verschiedenen Symptomen wie beispielsweise brennendem Schmerz, einschiessendem stromartigem Schmerz oder einer extremen Berührungsempfindlichkeit befinden», erklärt Wicki die Lernziele des Kurses. In diesem wird neben der peripheren Sensibilisierung – der Reizempfindlichkeit von Gewebe oder Nerven etwa in den Gliedmassen – auch die Sensibilisierung des zentralen Nervensystems thematisiert. Die Prozesse, die in Rückenmark und Gehirn ablaufen, können unter anderem dazu führen, dass bei einer Chronifizierung die Patienten «Schmerzen verspüren, obwohl die Verletzung im Gewebe schon lange ausgeheilt ist», führt Irene Wicki aus. Auch erfahren die Teilnehmenden mehr über die neurophysiologischen Mechanismen, wie psychosoziale Faktoren – etwa negative Gefühle oder familiäre Probleme – zu einer Chronifizierung des Schmerzes beitragen können.
Hochkomplexe Angelegenheit
Der von Wicki geleitete Kurs ist Teil des Certificate of Advanced Practice (CAS) «Schmerz Basic», einer interprofessionellen Weiterbildung am Departement Gesundheit. «Schmerz spielt in sämtlichen Gesundheitsberufen eine wichtige Rolle», sagt Ursina Schmid, Verantwortliche für das CAS. «Ob in der Sporttherapie oder in der Geriatrie, im akuten Bereich oder in der Arbeit mit chronisch kranken Menschen: Früher oder später kommen alle Health Professionals mit dem Thema in Kontakt.» Ein Schmerzbild frühzeitig richtig einzustufen und adäquat zu behandeln, sei dabei eine ganz wichtige Aufgabe. Denn, so Schmid: «Der richtige Umgang mit Schmerz kann dessen Chronifizierung verhindern.» Das sei nicht nur aus Sicht des Patienten hochrelevant, sondern senke auch die Gesundheitskosten massgeblich.
Bloss: Schmerz ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Ihn immer gleich und einfach da behandeln, wo er auftritt, ist nicht möglich. «Es wäre wunderbar, wenn es so einfach wäre. Doch Schmerz hat viele Gesichter», sagt Schmid. Er entstehe ganz unterschiedlich, werde durch zahlreiche Faktoren beeinflusst und äussere sich von Fall zu Fall sehr individuell. Auch bei einer genau gleichen Verletzung könne sich das Schmerzbild von Fall zu Fall gänzlich unterschiedlich entwickeln. «Und sogar kulturelle Faktoren spielen hinein», sagt Ursina Schmid. So habe Schmerz je nach Kultur einen anderen Stellenwert und die Menschen gingen unterschiedlich mit ihm um.
Es braucht die interprofessionelle Sicht
Dieser Komplexität kann in den Grundausbildungen der Gesundheitsberufe kaum Rechnung getragen werden. «Es wird zwar das Wichtigste über Schmerz für die eigene Profession vermittelt», so Ursina Schmid. «Es fehlt jedoch der interprofessionelle Ansatz, der insbesondere bei hochkomplexen Beschwerdebildern und Verläufen zentral ist.» So sei es für eine optimale Behandlung wichtig, dass die verschiedenen an einem Fall beteiligten Berufe ein gemeinsames Verständnis von Schmerz hätten und sich auf die gleiche Sprache sowie die gleichen Messverfahren und Interventionen einigen könnten.
Die berufsübergreifende Herangehensweise an den Schmerz ist in alle Unterrichtseinheiten des CAS integriert. Denn mit dem Abschluss sollen die Absolvierenden komplexe Fälle im interprofessionellen Setting koordinieren können. Darüber hinaus sollen sie in ihrem Arbeitsbereich mit dem zusätzlichen Wissen die Rolle der Ansprechperson für Fragen rund um das Thema Schmerz und Schmerzmanagement einnehmen. Und nicht zuletzt befähigt sie das CAS, Betroffene und Angehörige gezielt über das Thema Schmerz aufzuklären und sie im Selbstmanagement zu unterstützen. «Das erworbene Wissen kann in jedem Bereich des Gesundheitswesens angewendet werden», sagt Ursina Schmid. So habe ein Physiotherapeut mit dem im CAS vermittelten Explain-Pain-Ansatz ein Instrument, um seine Patientinnen gezielt aufzuklären und sie zu ermutigen, trotz Schmerzen aktiv zu bleiben. «Eine auf der Intensivstation tätige Pflegefachperson wiederum kann das Wissen einsetzen, um bei Schmerzen früh genug die Medikation richtig einzustellen.» Und ein Ergotherapeut erlange mit dem CAS die Expertise, Patientinnen ressourcenorientiert zu mehr Selbstständigkeit zu begleiten.
Mit Betroffenen die Ziele klären
Damit die Absolventinnen und Absolventen ihre Expertise in unterschiedlichsten Bereichen und für verschiedenste Aufgaben einsetzen können, deckt das CAS in drei Modulen ein breites Spektrum an Aspekten des Themas Schmerz ab. Im ersten Modul, «Schmerz multidimensional», lernen die Teilnehmenden «möglichst viele Facetten des Schmerzes kennen und verstehen», sagt CAS-Verantwortliche Ursina Schmid. Das zweite Modul vermittelt unter dem Titel «Patient Education and Empowerment» unter anderem, wie Gesundheitsfachpersonen und Patienten auf Augenhöhe kommunizieren und voneinander lernen können. «Die Patienten sind die Fachpersonen für ihren Schmerz – ihre Expertise sollte deshalb genutzt werden.» Zudem gelte es, mit dem Patienten die Erwartungen und Ziele zu klären. «Das erfordert viel Empathie und gute kommunikative Fähigkeiten, die in diesem Modul ebenfalls vermittelt werden», sagt Schmid. Das dritte Modul vermittelt verschiedene professionsspezifische und -übergreifende Ansätze zur Beurteilung sowie zur Behandlung von Schmerzen. «Und selbstverständlich lernen die Teilnehmenden, die Wirksamkeit mittels evidenzbasierter Messungen zu überprüfen.»
Im Unterrichtsraum am Departement Gesundheit haben die Teilnehmenden die Tests mit den Wattebäuschchen, Hämmern und Nadeln abgeschlossen und machen Pause. Es ist der erste Tag des CAS. Ergotherapeutin Zoe Laura Widmer erwartet von der Weiterbildung, mehr über die Mechanismen des Phänomens Schmerz zu verstehen. «Das Thema ist vielschichtig und komplex», sagt die junge Frau, die am Kantonsspital St. Gallen in der Handtherapie tätig ist. «Gerade Patienten mit chronischen Schmerzen sind schwierig zu behandeln – für diese herausfordernde Aufgabe erhoffe ich mir neues Wissen und nützliche Inputs.»
Das CAS «Schmerz Basic» Die Weiterbildung ist interprofessionell aufgebaut und richtet sich an Ärztinnen und Ärzte, Ergo- und Physiotherapeutinnen und -therapeuten (HF/FH), Pflegefachpersonen (HF/FH) sowie Psychologinnen und Psychologen. Sie umfasst drei Module im Umfang von jeweils fünf ECTS-Punkten und insgesamt 19 Präsenztagen am ZHAW-Departement Gesundheit. Die Weiterbildung kann unter anderem an den MAS Interprofessionelles Schmerzmanagement (als erstes CAS) sowie an den MAS Ergotherapie angerechnet werden. Weitere Informationen zhaw.ch/gesundheit/weiterbildung
Weitere Informationen
- UZHmagazin Ausgabe 4/2000: Schmerzforschung im Überblick
- Schmerzforschung am Institut für Anästhesiologie, Universitätsspital Zürich
- Interprofessionelles CAS Schmerz Basic
- MAS Interprofessionelles Schmerzmanagement