Dass wir Strom sparen sollen, haben wir inzwischen verstanden. Aber warum eigentlich? Regina Betz ist Professorin für Energie- und Umweltökonomik an der ZHAW und erklärt im Interview, wie wir mit unserem Strom- und Warmwasserverbrauch direkten Einfluss darauf nehmen, ob uns die Gasvorräte durch den Winter bringen.
Warum haben fehlende Gasimporte aus Russland Einfluss auf unser Stromnetz?
Regina Betz: In der Schweiz importieren wir insbesondere im Winter Strom aus Deutschland und dort wird für die Stromproduktion zur Abdeckung von Lastspitzen Gas eingesetzt. Gleichzeitig fehlt auf europäischer Ebene Strom aus französischen Atomkraftwerken. Dadurch muss häufiger Gas verstromt werden. Gas wird also nicht nur zur Erzeugung von Wärme verwendet. Wenn wir in Europa weniger Gas zur Verfügung haben, kann es dadurch auch zu einer Mangellage im Stromnetz kommen. Aufgrund der hohen Preise liegt Gas nun ganz am Ende der sogenannten Merit-Order, die die Einsatzreihenfolge der stromproduzierenden Kraftwerke festlegt. Die Merit-Order orientiert sich an den niedrigsten Betriebskosten, die bei einem Kraftwerk für die letzte produzierte Megawattstunde anfallen – da sind derzeit die erneuerbaren Energien aus Sonne und Wind an erster Stelle, gefolgt von Atomenergie. Die Kraftwerke, die preisgünstig Strom produzieren, werden gemäß der Merit-Order als erstes zur Einspeisung zugeschaltet. Danach werden so lange Kraftwerke hinzugenommen, bis die Nachfrage gedeckt ist – als letztes Gaskraftwerke. Je tiefer die Nachfrage, desto geringer der Bedarf an Gaskraftwerken.
Wenn wir jetzt schon Strom sparen, haben wir dann einen Vorrat im Winter?
Wir tragen mit einem niedrigen Stromverbrauch direkt dazu bei, dass weniger Gas verbraucht wird und somit die Gasvorräte länger anhalten im Winter. Je weniger Strom wir jetzt verbrauchen, desto weniger Gaskraftwerke muss Deutschland zur Stromproduktion einsetzen und desto mehr bleiben die Gasspeicher gefüllt.
Und welche Rolle spielt der Warmwasserverbrauch?
Die Art wie wir heute Wärme für das Heizen der Gebäude und das Warmwasser erzeugen, basiert sehr häufig direkt auf Gas. Also auch hier haben wir es in der Hand: Wenn wir auf Schaumbäder verzichten und kürzer duschen, hat das einen direkten Einfluss auf den Gasverbrauch. Einen noch grösseren Einfluss auf den Gasverbrauch hat die Raumtemperatur. Die Heizung runterzudrehen ist also noch wichtiger, als die Hände kalt zu waschen.
«Die Lage hat sich so zugespitzt, weil mehrere Faktoren gleichzeitig eingetreten sind.»
Regina Betz
Neben den ausbleibenden Gaslieferungen werden die abgeschalteten Atomkraftwerke und der trockene Sommer als Faktoren für die zugespitzte Situation genannt. Wie hängt das alles zusammen?
Die Lage hat sich genau deshalb so zugespitzt, weil mehrere Faktoren gleichzeitig eingetreten sind. Frankreich musste mehrere Atomkraftwerke vom Netz nehmen wegen Spannungsrisskorrosionen an einem sicherheitskritischen Bauteil einer Generation von Reaktoren sowie nachgeholten Unterhaltsarbeiten. Und auch bei uns in der Schweiz kam es zwischenzeitlich schon zu Abschaltungen. Dazu kommt der trockene Sommer, worunter die Stromerzeugung durch Wasserkraft leidet. Unsere Speicherkraftwerke sind nicht so voll wie sie sein könnten. Und nicht zuletzt haben wir dieses Jahr eine Art postpandemischen Mehrverbrauch von Strom zu verzeichnen, weil viele Aktivitäten wieder möglich sind, die in den letzten zwei Jahren nur eingeschränkt oder gar nicht stattgefunden haben.
Bis anhin war Strom in der Nacht immer kostengünstiger für uns Konsument:innen. Macht das noch Sinn?
Das hängt von Angebot und Nachfrage ab. Tagsüber wird nach wie vor am meisten Strom gebraucht, weil dann am meisten gearbeitet wird. Die Nachfrage ist also höher als in der Nacht. Mit dem günstigeren Nachttarif hat man versucht, den Stromverbrauch teilweise in die Nacht zu verlegen und somit die Spitzen im Stromverbrauch etwas auszugleichen. Aber da wir schon jetzt viele Photovoltaikanlagen in Deutschland und Italien haben, ist auch die Stromverfügbarkeit tagsüber grösser, daher würde es Sinn machen, die Tarife an das Angebot, d.h. an das Wetter, anzupassen.
Und warum braucht die Axpo als grösste Stromanbieterin der Schweiz auf einmal Milliardenkredite?
Wir unterscheiden zwei Arten, wie Strom verkauft wird. Erstens: der Terminmarkt. Hier wird zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine gewisse Dauer Strom für die Zukunft gehandelt. Der Einheitspreis bezieht sich auf die Dauer des Bezugs, unabhängig von Preisschwankungen. Zweitens: der Tagesmarkt. Hier wird der Strom am Markt live eingekauft zu täglich oder gar stündlich schwankenden Preisen. Das Problem: Wenn der Preis für den Terminbezug oder den Tagesmarkt stark schwankt und teurer wird, muss die Axpo als Anbieterin Sicherheiten hinterlegen. Dafür braucht sie liquide Mittel. Weil die Strompreise sowohl heute als auch am Terminmarkt sehr stark schwanken und stark gestiegen sind (siehe Merit-Order), muss die Axpo zweimal täglich ihre Sicherheiten ausweisen, gemessen an den sprunghaften Preisen.
Interview: Matthias Kleefoot
Zur Person:
Prof. Dr. Regina Betz ist Professorin für Energie- und Umweltökonomik und leitet das Center for Energy and the Environment (CEE) an der ZHAW School of Management and Law. Als Co-Autorin der Publikation «Der schweizerische Strommarkt zwischen Liberalisierung und Regulierung» geht sie der Frage nach, wie viel Liberalisierung möglich und wie viel Regulierung nötig ist, um einen effizienten Markt zu schaffen und gleichzeitig die Ziele der Energiestrategie 2050 des Bundes zu erreichen.