Vorlesungsaufzeichnungen – Warum Studierende diese schätzen, doch Dozierende zurückhaltend sind

Ein Beitrag von Franziska Hirt

Das neue Semester hat begonnen – erfreulicher Weise auch onsite! Für manche Personen sind synchrone onsite Veranstaltungen aber auch eine Hürde. Um lebenslanges Lernen möglichst Allen zu ermöglichen, ist ein flexibler Zugang zu Lerninhalten, bspw. in der Form von asynchron abrufbaren Vorlesungsaufzeichnungen, hilfreich. Dabei gilt es aber auch die komplexen, potenziellen Nachteile von Vorlesungsaufzeichnungen zu berücksichtigen.

Der interne ZHAW-Bericht “Lehren und Lernen vor und nach Covid-19” kam zu dem Schluss, dass «Studierende […] Videos und Screencasts [schätzen], um sich Lerninhalte entweder asynchron und/oder wiederholt aneignen zu können. Lehrende setzen dagegen vermehrt auf Aufträge für Selbststudium und sind eher zurückhaltend beim Anbieten von aufgezeichneten Lerninhalten.”  Auch andere Studien zeigen, dass Studierenden Aufzeichnungen sehr positiv wahrnehmen und fordern, wohingegen Dozierende vermehrt die Nachteile im Blick haben (Banerjee, 2021; Morris et al., 2019).

✂ Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?

Die Fachgruppe Blended Learning listet folgende potenziellen Vor- und Nachteile von Aufzeichnungen im Framework Educational Design für Dozierende: Schwerpunkt Lern- und Prüfungssettings auf:

Die Tabelle lässt es erahnen: die Aufzeichnung interaktiver Unterrichtsformate bringt zahlreiche zusätzliche Herausforderungen und Fragen mit sich. Daher bezieht sich dieser Beitrag bewusst nur auf die Aufzeichnung von Frontalunterricht/Vorlesungen.

Asynchrone Videos ermöglichen Lernen genau dann, wenn die Konzentration und die Motivation da ist – und das auch noch im eigenen Tempo!

Die didaktischen und organisatorischen Vorteile von Vorlesungsaufzeichnungen für Studierende liegen spätestens nach dem Studieren der Tabelle auf der Hand. Die Beurteilung der potenziellen Nachteile ist dagegen komplex und auch von fachspezifischen sowie persönlichen Gewohnheiten oder Vorlieben abhängig.

Im Folgenden möchte ich auf drei Hürden für Vorlesungsaufzeichnungen aus Sicht von Dozierenden eingehen. Vielleicht erklären diese die unterschiedliche Haltung von Studierenden und Dozierenden.

👉 1. Hürde: Angst vor leeren Hörsälen…

Eine häufig genannte Befürchtung ist, dass durch die Aufzeichnung niemand mehr zur Vorlesung kommt. Der Gedanke dahinter ist, dass wenn Lerninhalte nur/primär in der Vorlesung vermittelt werden, die Motivation diese zu besuchen höher ist, als wenn das Material auch anderweitig zur Verfügung steht. Wie sehr ist diese Befürchtung gerechtfertigt?

Ob Aufzeichnungen zu reduzierter Anwesenheit onsite führen, variiert zwischen Studien, wird aber aus der Praxis häufig berichtet (Skead et al., 2020). Es scheint dennoch weitere relevante Faktoren für/gegen die Anwesenheit zu geben (Nordmann & Mcgeorge, 2018; Skead et al., 2020; Topale, 2016).

Es ist ein häufig berichtetes Phänomen, dass die Teilnehmerzahlen zu Semesterbeginn hoch sind und im Semesterverlauf stark abnehmen (u.a. Hollett et al., 2020). Nachdem man sich ein erstes Bild gemacht hat, mögen bspw. mangelnde Vereinbarkeit mit anderen Aktivitäten/Beruf, bewusst erstellte Lernstrategien oder schlichtweg Bequemlichkeit zu einer späteren Abnahme der Präsenzen führen.

Wie können wir dem gegenwirken?

Studierende sollten idealerweise «natürliche» Vorteile in einer synchronen onsite Teilnahme von Vorlesungen wahrnehmen, sodass trotz Aufzeichnung keine übermässigen Absenzen entstehen. Dies sind vermutlich v.a. “weiche” Vorteile, welche das Zugehörigkeitsgefühl zur Lern-Community stärken:

  • Mitreissendes Auftreten der dozierenden Person
  • Plenumsdiskussionen und weitere interaktive Elemente (pausierte Aufzeichnung)
  • Möglichkeiten, um Fragen zu stellen
  • informeller Austausch zu Beginn/am Ende der Veranstaltung (ohne Aufzeichnung)

Wenn dies allein nichts nützt, kann auch die Partizipation der Studierenden in Form eines gemeinsamen Commitments der Studierenden zu Anwesenheit Absenzen abpuffern. Unterton: «Wenn keiner mehr kommt, wird es langweilig vor Ort und die Veranstaltung wird womöglich zukünftig nur noch asynchron angeboten. Wenn ihr dem vorbeugen wollt, kommt wann immer möglich vor Ort.» Ein informelles Commitment (bspw. über ein anonymes Tool wie Mentimeter) könnte die Intention zur Teilnahme festigen und so die Präsenzen erhöhen (Hollett et al., 2020).

Bewusst die Qualität von Aufzeichnungen schlecht zu halten oder Vorlesungsaufzeichnungen nur auf Attest zur Verfügung zu stellen, um Absenzen gering zu halten, ist im Sinne des Ziels von Autonomie/Selbstbestimmung beim Lernen kritisch zu betrachten. Idealerweise sollten Studierende selbst entscheiden können und dürfen, wie sie am besten lernen.

Und wenn die Teilnehmerzahl sich nun durch die Aufzeichnungen doch reduziert? – Nicht unbedingt Grund enttäuscht zu sein!

Zugegeben, es ist nicht schön, gegen die leere Wand zu unterrichten. Doch Dozierende könnten die vermisste synchrone Resonanz und Rückmeldung womöglich online wiederfinden, z.B. in der Anzahl an Aufrufen der Aufzeichnungen, Dauer der Ansichten, Kommentare zu den Aufzeichnungen, Forenbeiträgen etc. Weniger Onsite-Teilnehmende bedeutet nicht automatisch, dass weniger Personen von diesen profitieren. Man kann sich auch freuen, dass die durch die Aufzeichnungen gewonnene Flexibilität/Autonomie bei den Studierenden auf positive Resonanz trifft und sich der Aufwand dieser somit lohnt.

Onsite Präsenz ist keine Voraussetzung für effektives Lernen und Prüfungserfolg! Weiter mag es vielleicht beruhigen, dass nicht von einem Zusammenhang zwischen snychroner Präsenz und effektivem Lernen/Prüfungserfolg ausgegangen werden kann, wenn Aufzeichnungen zur Verfügung stehen (Hollett et al., 2020; Nieuwoudt, 2020).

Foto: Nathan Dumlao/Unsplash

👉 2. Hürde: Hohe Ansprüche von Dozierenden

Ein weiterer Nachteil von Vorlesungsaufzeichnungen aus Sicht von Dozierenden kann die Möglichkeit der Blossstellung und ein befürchteter Reputationsverlust sein. So neigen wir doch bei eigenen Videoaufnahmen zu hohen Ansprüchen an die Qualität. Versprecher können wir vielleicht noch synchron hinnehmen, aber diese aufzuzeichnen kann unangenehm sein. Womöglich machen aber gerade diese Versprecher die Aufzeichnungen auch natürlich und lebendig? Gravierender sind dagegen unbemerkte Versprecher (Falschaussagen), welche dann nach Prüfungen zu Rekursen führen könnten.

👉 3. Hürde: Datenschutzdschungel

Eine weitere Herausforderung für Dozierende kann die Sicherstellung des Datenschutzes bei Aufzeichnungen sein. Selbst bei interaktionsarmen Unterrichtsformen gelangen schnell einmal Stimmen oder sogar Bilder der Studierenden auf die Aufzeichnungen. Auch die (fristgerechte) Löschung der Aufzeichnungen will geplant und umgesetzt sein. Was es dabei zu beachten gilt, ist im Merkblatt zur Aufnahme von Lehreinheiten der ZHAW zusammengefasst.

Wie geht es nun nach der akuten Pandemie weiter?

Der interne ZHAW-Bericht “Lehren und Lernen vor und nach Covid-19” legt nahe, dass auch Studierenden der Datenschutz bei Vorlesungsaufzeichnungen wichtig ist:

“Was die Lernmaterialien betrifft wünschen sich die Studierenden weiterhin vor allem audiovisuelles Material wie vertonte Präsentationen, Vorlesungsaufzeichnungen, Lernvideos und Tutorials, dafür weniger Leseaufträge. Die Studierenden wünschen allerdings Informationen dazu, ob sie im Bild zu sehen sind, ob persönliche Themen besprochen werden und wie lange die Aufzeichnungen abrufbar sein werden, bevor Kurse aufgezeichnet werden.”

Inwieweit klassischer Frontalunterricht die Pandemie “überlebt” bleibt wohl abzuwarten. Schliesslich könnten synchrone (onsite) Veranstaltungen gemäss Flipped Classroom auch intensiver interaktiv genutzt werden und Vorlesungen durch asynchrone Lernvideos ersetzt werden. Nichtsdestotrotz gibt synchroner Frontalunterricht Struktur und davor/danach Möglichkeiten zur sozialen Vernetzung.

Komplett erübrigen wird sich die Frage nach der Vorlesungsaufzeichnung demnach zumindest vorerst (noch) nicht. Das Abwägen des didaktisch wertvollen flexiblen Zugangs durch Vorlesungsaufzeichnungen gegen deren potenziellen Nachteile und Aufwand bleibt weiterhin ein Thema.

Literatur

Banerjee, S. (2021). To capture the research landscape of lecture capture in university education. Computers and Education, 160(May 2020), 104032. https://doi.org/10.1016/j.compedu.2020.104032

Hollett, R. C., Gignac, G. E., Milligan, S., & Chang, P. (2020). Explaining lecture attendance behavior via structural equation modeling: Self-Determination Theory and the Theory of Planned Behavior. Learning and Individual Differences, 81(May), 101907. https://doi.org/10.1016/j.lindif.2020.101907

Morris, N. P., Swinnerton, B., & Coop, T. (2019). Lecture recordings to support learning: A contested space between students and teachers. Computers and Education, 140(December 2018), 103604. https://doi.org/10.1016/j.compedu.2019.103604

Nieuwoudt, J. E. (2020). Investigating synchronous and asynchronous class attendance as predictors of academic success in online education. Australasian Journal of Educational Technology, 36(3), 15–25. https://doi.org/10.14742/AJET.5137

Nightingale, K. P., Anderson, V., Onens, S., Fazil, Q., & Davies, H. (2019). Developing the inclusive curriculum: Is supplementary lecture recording an effective approach in supporting students with Specific Learning Difficulties (SpLDs)? Computers and Education, 130(June 2018), 13–25. https://doi.org/10.1016/j.compedu.2018.11.006

Nkomo, L. M., & Daniel, B. K. (2021). Sentiment analysis of student engagement with lecture recording. TechTrends, 65(2), 213–224. https://doi.org/10.1007/s11528-020-00563-8

Nordmann, E., & Mcgeorge, P. (2018). Lecture capture in higher education: time to learn from the learners. https://doi.org/10.31234/osf.io/ux29v

O’Callaghan, F. V., Neumann, D. L., Jones, L., & Creed, P. A. (2017). The use of lecture recordings in higher education: A review of institutional, student, and lecturer issues. Education and Information Technologies, 22(1), 399–415. https://doi.org/10.1007/s10639-015-9451-z

Skead, N., Elphick, L., McGaughey, F., Wesson, M., Offer, K., & Montalto, M. (2020). If you record, they will not come – but does it really matter? Student attendance and lecture recording at an Australian law school. Law Teacher, 54(3), 349–367. https://doi.org/10.1080/03069400.2019.1697578

Topale, L. (2016). The strategic use of lecture recordings to facilitate an active and self-directed learning approach. BMC Medical Education, 16(1), 1–9. https://doi.org/10.1186/s12909-016-0723-0

Vlachopoulos, P., & Shazia, J. (2020). Student attendance, preference and motivation. Journal of University Teaching & Learning Practice, 17(5).


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