Beitrag von Benjamin Eugster
Für die Beschäftigung mit digitalen Prüfungen lohnt sich ein Blick auf die Hochschulen in Norwegen. In grossen Prüfungshallen reihen sich die Studierenden, die ihre Prüfungen auf ihren eigenen Rechnern durchführen. Wie man sich dies vorzustellen hat und was man davon für die Flexibilisierung des digitalen Studiums lernen könnte.
An der ZHAW werden seit einigen Semestern digitale Prüfungen im Pilotbetrieb durchgeführt. Diese erfolgen mehrheitlich mit den eigenen Geräten der Studierenden nach dem so genannten Bring-Your-Own-Device-Prinzip. Damit die Studierenden während der Prüfung weder miteinander kommunizieren können, noch auf unerlaubte digitale Hilfsmittel (externe Websites, Programme, lokaler Speicher) zugreifen können wird ein eigens für digitale Prüfungen programmierter Browser verwendet. Im steten Austausch mit unterschiedlichen Schweizer Hochschulen, die den «Safe Exam Browser» verwenden, und in Zusammenarbeit mit den Entwicklern des LET der ETH Zürich wird das Programm sowie dessen Einsatz in Prüfungen optimiert. Da einige norwegische Hochschulen mit derselben Software Prüfungen durchführen und das BYOD-Konzept bereits in der Breite einsetzen, lag der Gedanke nahe, den Blick nach Norwegen zu wagen und mit drei Universitäten Kontakt aufzunehmen. Im Rahmen des Swiss-European Mobility Programme (SEMP) konnte ich im letzten Herbst für eine Woche nach Norwegen reisen, um mich mit den Projektleitungen für E-Assessment der Universität Bergen, der Universität Oslo und der NTNU Trondheim auszutauschen.
Individualisiertes Prüfen mit studentischen Rechnern
Für den ersten Stopp in Bergen ist ein frühmorgendlicher Besuch in den Prüfungsräumen der Universität vorgesehen. Ich betrete einen schlichten Raum, der mit Reihen von Stühlen und Tischen ausgestattet ist, zwischen denen sich graue Kabelleisten langziehen. An der Wand hängen Markblätter, welche die Studierenden in den letzten Minuten vor ihren Prüfungen nochmals daran erinnern, mit welchen Nutzerdaten sie sich für die Prüfung im eduroam-Netzwerk einwählen sollten. Ich befinde mich in einem der neuen Prüfungsräume der Universität Bergen, in denen Semester für Semester tausende Studierende auf ihren eigenen Rechnern ihre Prüfungen digital durchführen.
Da der Zeitpunkt meiner Reise nach Norwegen ausserhalb der offiziellen Prüfungsphase liegt, befinden sich gerade nur wenige Studierende im Prüfungsraum, die ihre Nachholprüfungen absolvieren. Während einige Studierende ihre Prüfungen vorne auf Papier schreiben, sitzen weitere Studierende hinter ihren eigenen Rechnern. Bei den Studierenden scheint es sich damit mittlerweile längst um eine routinierte Tätigkeit zu handeln und so wird der Raum von der üblichen Ruhe und konzentrierten Anspannung eines Prüfungsraums beherrscht. Magnus Svendsen Nerheim, Leiter des abgeschlossenen Projekts zu digitalen Prüfungen an der Universität Bergen, erklärt mir, dass eine möglichst stressfreie Erfahrung der Prüfungssituation für die Studierenden bei ihnen grossgeschrieben werde. Aus diesem Grund wird ein möglichst individualisierter Prüfungsablauf angestrebt, bei dem Studierende nicht durch ein Prüfungsraum geschleust werden, sondern bei dem sich Studierende vor der Prüfung so einrichten können, dass sie sich optimal auf ihre Prüfungsleistung fokussieren können. Dazu gehört ebenso sehr, dass sich Studierende vor dem Prüfungsbeginn mit ihrem eigenen Gerät einen Platz nach Wahl aussuchen können, wie auch das Wissen darum, dass Personen und Ersatzgeräte anwesend sind, die im Notfall technisch aushelfen können.
BYOD zwischen Gretchenfrage und Pragmatismus
Während sich dieser BYOD-Ansatz an einigen Hochschulen für den digitalen Prüfungsbetrieb durchgesetzt hat (z.B. Universität Bergen, NTNU Trondheim, Universität Göteborg), setzt die Universität Oslo nach einer mehrjährigen Pilotphase mit BYOD auf ihre grosszügig ausgestatteten Computerräume. Als die Universität Oslo 2011 damit startete, einen Teil ihrer Prüfungen digital durchzuführen, hatten sie selbst noch mit studentischen Rechnern gearbeitet, um die Prüfungen flexibel an den unterschiedlichen Standorten des Campus durchzuführen. Erst 2015 wurden die Computerpools mit hunderten Rechnern eingerichtet und für einen Grossteil der Prüfungen genutzt. Mit speziell ausgestatteten Einzelprüfungsplätzen begegnet die Universität den unterschiedlichen Bedürfnissen von Studierenden und ermöglicht einen möglichst barrierefreien Prüfungsbetrieb.
Dass die Wahl des Ansatzes jedoch wenig mit der Anzahl an durchgeführten Prüfungen zu tun hat zeigt ein Blick in die Ende 2018 eröffneten Prüfungsräumlichkeiten der NTNU Trondheim, die bis zu 1400 Studierende gleichzeitig unterbringen können. Mit insgesamt drei Standorten, die etwas mehr als 300 Kilometer auseinanderliegen, war es für die NTNU wichtig, eine vergleichbar flexible Lösung zu finden für ihre digitalen Prüfungen. Um das Prüfungssetting nicht nur in der Quantität, sondern auch in der technischen Ausrichtung flexibilisieren zu können, kombinieren sie die unterschiedlichen Ansätze miteinander. Mit den Prüfungshallen kann die Mehrheit der digitalen Prüfungen mit studentischen Geräten abgedeckt werden. Die zusätzlich eingerichteten PC-Pools oder Einzelplätze werden dazu genutzt, auf besondere Bedürfnisse von Studierenden oder aber auf besondere Anforderungen einzelner Prüfungen (z.B. Spezialsoftware) zu reagieren.
Bildungspolitische Rahmenbedingungen
Während die Studierenden an der ZHAW ihre digitalen Prüfungen auf der Lernplattform Moodle schreiben, nutzen gut die Hälfte der norwegischen Hochschulen die Prüfungsplattform «Inspera». Am Ende meiner Reise hatte ich die Möglichkeit an der Inspera Tagung in Oslo teilzunehmen, an der sich eine illustre Gemeinschaft von Fachhochschulen, Universitäten und Prüfungsinstitutionen aus Grossbritannien, Schweden und Island treffen um ihre eigenen Lösungsansätze für digitale Prüfungen zu diskutieren (siehe z.B. Universität Göteborg oder University of Iceland) und gegenseitig voneinander zu lernen.
Bei dem Austausch über die unterschiedlichen Lösungen, digitale Prüfungen an einer Hochschule einzuführen, wurde auch deutlich, dass die Entwicklungen der letzten Jahre nicht im luftleeren Raum stattfanden. Im Gegenteil waren mehrere Faktoren der Norwegischen Hochschullandschaft förderlich für diese Entwicklung. Einerseits wurde in Norwegen 2015 ein nationales Projekt zur Implementierung von Infrastrukturen und Dienstleistungen für digitale Prüfungen gestartet. Andererseits wurde die Anbindung an das Studienadministrationssystem dadurch massiv erleichtert, dass in ganz Norwegen dasselbe System zur Studienadministration genutzt wird. Das «Felles studentsystem» wird von der Direktion UNIT gewartet und weiterentwickelt, das dem norwegischen Bildungsministerium untersteht und einen Zusammenschluss der bis 2018 getrennten Hochschulnetzwerke darstellt. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht erstaunlich, dass sich das Prüfungssystem gleich an so vielen Hochschulen integrieren liess.
Viele Lösungsansätze – kein Patentrezept
Ein Blick in diese internationale «community of practice» hat teilweise jedoch auch überraschende Erkenntnisse zu Tage gefördert. Wer hätte beispielsweise gewusst, dass die meisten skandinavischen Hochschulen ganze Gruppen von Rentnerinnen und Rentnern für die Aufsicht von Prüfungen einstellen? Am deutlichsten wurde bei all den Diskussionen und Lösungsansätzen jedoch, dass es keine Patentrezepte gibt. So bestand gerade in Bezug auf die Erfassung von Skizzen und handschriftlichen Formen bei digitalen Prüfungen weitgehend Konsens darüber, dass eine 100-prozentige Digitalisierung des Prüfungsbetriebs nur mit Kompromissen wie z.B. dem teilweisen Scan von Papiernotizen zu bewerkstelligen sei.
Insgesamt zeigte sich in den Diskussionen aber auch, dass vor lauter technischen Lösungen das Hauptanliegen der angestrebten Innovationen nicht aus dem Fokus verloren werden darf. Die Bereitstellung der digitalen Infrastruktur macht nur einen Teil eines didaktisch reichhaltigen und inklusiven Prüfungsbetriebs aus. Insbesondere die Hochschulen mit längerer Erfahrung im digitalen Prüfen sind sich einig, dass sich die weiteren Entwicklungen auf einer stärkeren Verzahnung des digitalen Prüfens mit den individualisierten Lehr-und Lernprozessen fokussieren muss, statt diese zu konkurrieren.