Auch winzige Arsendosen töten irgendwann

Radikalisierung äussert sich in der Sprache ganz unterschiedlich: Mal ist sie laut und unübersehbar. Mal verläuft sie so subtil, dass man ihre Sprengkraft viel zu lange unterschätzt. Stets aber gilt: Worte sind nicht harmlos. «Worte können sein wie winzige Arsendosen, und nach einiger Zeit ist die Wirkung da», habe Viktor Klemperer einst über die Sprache der Nationalsozialisten gesagt. Philipp Dreesen, Leiter Forschungs- und Arbeitsbereich Digital Linguistics, zitiert den deutschen Philologen nicht ohne Grund: Gemeinsam mit der Korpuslinguistin Julia Krasselt ist Dreesen in den vergangenen Jahren der Frage nachgegangen, woran sich politische Radikalität im Wortschatz eigentlich festmacht – gerade auch dort, wo sie auf den ersten Blick nicht unbedingt ersichtlich ist.

von Ümit Yoker, freie Journalistin

Die beiden ForscherInnen am ILC Language Competence Centre haben dazu den Wortschatz von Spiegel, Bild und Zeit mit demjenigen der rechtspopulistischen Plattformen PI-News und Compact verglichen. «Eigentlich taten wir nichts anderes als Wörter auszuzählen», erzählt Krasselt schmunzelnd. «Allerdings braucht es einen sehr grossen Datensatz, um aussagekräftige Informationen zu erhalten.» Mehr als 600’000 redaktionelle Beiträge haben die zwei Wissenschaftler analysiert, alles Texte, die zwischen 2008 und 2018 online erschienen sind. Die Grundidee: Die Bedeutung eines Wortes ist nicht einfach gegeben, sondern erschliesst sich oft erst aus dem Kontext, in den es eingebettet ist. Deshalb untersuchten Julia Krasselt und Philipp Dreesen nicht nur, welche Begriffe je nach Medienangebot wie oft vorkamen – sondern auch, welche Wörter sich in deren unmittelbarer Nachbarschaft häuften. Wie sich zeigte, gibt es einen Wortschatz, den die beiden Forscher nur in den rechtspopulistischen Medien antreffen: Mainstreampresse, Lügenmedien oder Asylforderer gehören etwa zu diesem – Signalwörter, aus denen deutlich eine rechtspopulistische beziehungsweise radikalisierte Haltung spricht. «Begriffe des Alltags wie Espresso oder Knoblauch, die in etablierten Medien häufig vorkommen, sucht man hingegen vergeblich», sagt Dreesen. Das liegt vor allem daran, dass PI-News und Compact fast ausschliesslich über Politik berichten würden und die Berichterstattung zudem auf Themen wie Islam, Migration und Medienkritik einengten, sagen die beiden.

Wenn unscheinbare Worte zu ideologischen Begriffen werden

Was die beiden Wissenschaftler an ihren Forschungsergebnissen aber besonders erstaunt: Selbst dort, wo rechtspopulistische News-Plattformen dieselben Begriffe verwenden wie die sogenannten Orientierungsmedien, haben sie häufig nicht die gleiche Bedeutung. So engen PI-News oder Compact den Bedeutungshorizont von eigentlich neutralen Worten wie Verhältnis, Leistung oder Industrie so stark ein, dass mit der Zeit nur noch eine politische und negativ konnotierte Lesart möglich ist. Ein Wort wie Figur wird in den rechtspopulistischen Portalen beispielsweise ausschliesslich zur Beschreibung der physischen Statur in einem Fahndungsprofil eingesetzt – also etwa um zu sagen, dass ein gesuchter Täter eine kräftige Figur habe. Die etablierten Medienhäuser hingegen verwenden das Wort viel breiter. Irgendwann lassen sich solche Begriffe selbst in anderen Kontexten nicht mehr unvoreingenommen lesen, sind sich Dreesen und Krasselt einig. Diese Worte durchlaufen im wahrsten Sinne eine Radikalisierung: Sie verwandeln sich von unverfänglichen Begriffen zu Ausdrücken mit politischer Sprengkraft.

Worte können Schleusen öffnen

Es sind ausserdem Wortkonstruktionen wie «Gedenkindustrie», die ironischerweise genau das verhindern, was sich rechtspopulistische Medienangebote so gross auf die Fahne schreiben: Die Möglichkeit, sich frei eine Meinung zu bilden. Plattformen wie PI-News oder Compact begründen die Notwendigkeit ihrer Existenz damit, dass die etablierten Medienhäuser einseitig berichten und keine anderen Ansichten zulassen würden. «Ein Begriff wie «Gedenkindustrie» lässt allerdings keinerlei Raum für differenzierte und demokratische Diskussionen», sagt Dreesen. Er stellt lediglich vor die Wahl, der darin enthaltenen Weltsicht zuzustimmen oder Position dagegen zu beziehen – in diesem Fall gegen die Behauptung, dass die Erinnerung an den Holocaust ein gross angelegtes Geschäftsmodell sei und vornehmlich aufrechterhalten werde, um Profit daraus zu schlagen. Der mühsam errungene Konsens, dass das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus ein Staatsauftrag ist, wird immer mehr aufgeweicht, sind die beiden Wissenschaftler überzeugt. «Solche Worte können Schleusen öffnen.»

Extreme werden als normal empfunden

Auch Aleksandra Gnach, Professorin für Medienlinguistik am IAM Institut für Medienwissenschaft, beschäftigt sich mit der Radikalisierung von Sprache. Sie richtet ihr Augenmerk vor allem auf die sozialen Medien. «Auf Facebook und Co. wird heute abgehandelt, was früher am Stammtisch besprochen wurde – allerdings mit weiterreichenden Konsequenzen», sagt die Sprach- und Medienwissenschaftlerin. Kommunikation mit derartiger Reichweite sei früher vorwiegend Journalistinnen und Journalisten vorbehalten gewesen. Diese orientieren sich in ihren Beiträgen stark an einer schriftlichen Sprache und haben diverse rechtliche und ethische Vorgaben einzuhalten, etwa die Verpflichtung zu einer ausgewogenen Berichterstattung. Was veröffentlicht wird, wurde reflektiert, redigiert, gegengelesen. «In den sozialen Medien ist der Austausch unmittelbarer und ähnelt mehr der mündlichen Kommunikation.»

29 Prozent der 11- bis 16-jährigen Mädchen und Jungen haben hasserfüllte oder erniedrigende Kommentare gegen Menschen oder bestimmte Gruppen gesehen.

— EU Kids Online: Schweiz, 2019

Es wird in den sozialen Medien also spontaner, vielleicht auch unüberlegter kommuniziert. Das alleine erklärt aber noch nicht, warum sich Sprache gerade dort häufig so leicht radikalisiert. Gnach macht zudem Gründe sozialer wie technologischer Natur aus: So liege es in der Natur des Menschen, nach Gleichgesinnten zu suchen, und diese Suche gestalte sich gerade in den sozialen Medien vielfach leicht. In jeder Gemeinschaft gelten eigene Regeln, Werte und Normen, auch, was die Sprache betrifft: Wo jemand aber etwa für die Aussage, dass alle Muslime zu deportieren seien, nicht mit Missbilligung noch sozialen Sanktionen rechnen muss, sondern ungeteilten Zuspruch erhält, wird irgendwann eine Wortwahl normal, die anderswo undenkbar wäre. Die Folge: Man empfindet immer radikalere Ansichten für zulässig und äussert sie mit zunehmender Selbstverständlichkeit. Hinzu kommt: Kommunikation ist in den sozialen Medien anonymer als im realen Leben. Man bekommt wenig mit von der Wirkung, die ein Posting für die betroffene Person hat. Es fällt relativ leicht, das Gegenüber zu abstrahieren, im schlimmsten Fall sogar, sein Menschsein zu negieren.

24 Prozent der 9- bis 16-Jährigen in der Schweiz wurden online schon einmal diskriminiert.

— EU Kids Online: Schweiz, 2019

Die Algorithmen hinter Social-Media-Plattformen verstärken all diese Tendenzen zusätzlich: Was einem an neuen Beiträgen vorgeschlagen wird, orientiert sich in der Regel am bisherigen Suchverlauf – und so findet sich jeder je länger, je mehr in einer Blase wieder, die ausschliesslich die eigenen Interessen und Haltungen widerspiegelt. Dabei werden beispielsweise bei Youtube automatisch immer extremere Beispiele ins Blickfeld gespült – Inhalte, die viel Beachtung finden, verbreiten sich extrem schnell. Irgendwann stösst man so kaum mehr zufällig auf andere Themen oder abweichende Ansichten, so wie es etwa beim Durchblättern einer Zeitung noch vorkommt.

5 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben selbst Hassinhalte an andere geschickt.

— EU Kids Online: Schweiz, 2019

Von pauschalen Verboten oder einem Verteufeln der sozialen Medien hält Gnach trotzdem wenig. Die Forscherin fordert dazu auf, die klassische Medienberichterstattung kritisch zu reflektieren: Qualitätsmedien würden sich vorwiegend an ein gebildetes und urbanes Publikum wenden und deren Lebenswelt abbilden. Viele Menschen fänden sich darin aber nicht wieder und sähen ihre Sorgen und Ängste zu wenig wahrgenommen. Die Wissenschaftlerin ist überzeugt: Wenn es den grossen Medienhäusern gelänge, diesen Teil der Bevölkerung zurück in den öffentlichen Diskurs zu holen, wäre auch für sie selbst viel gewonnen. «Sie wären wieder für viel mehr Menschen relevant.»

Radikale Sprache geht physischer Gewalt voraus

Stereotype sind oft die Basis von radikalisierten, z. B. frauenfeindlichen oder antisemitischen Aussagen. Sie sind aber zugleich ein Bestandteil unseres Denkens. Sie vereinfachen uns das Leben, sie reduzieren die Komplexität unseres Alltags. «Selbst Tiere verfügen über Stereotypen, Feind- und Beuteschemata etwa», sagt Christiane Hohenstein, Professorin für Interkulturalität und Sprachdiversität am ILC. Dies entbindet uns jedoch nicht von Verantwortung, gesellschaftliche Stereotype zu reflektieren und zu hinterfragen. «Wir müssen Vorurteilen nicht willenlos erliegen.»

Medien und Politik müssen wachsamer sein

Grenzen wir bestimmte Bevölkerungsgruppen mit sprachlichen Mitteln aus, z. B. Homosexuelle, Frauen oder Menschen jüdischen Glaubens, wird damit schleichend der Boden für noch schlimmere Taten bereitet. «Physischer Gewalt geht stets radikale Sprache voraus», sagt Hohenstein. «Sie legitimiert Gewalt.»

Anteil der Befragten, die in den letzten drei Monaten im Internet auf hasserfüllte oder erniedrigende Beiträge gestossen waren, die Gruppen oder Individuen angriffen.

Gefährlich ist insbesondere, wenn Politiker und Politikerinnen die Grenzen des Sagbaren stetig erweitern und immer radikalere Ansichten salonfähig machen. «So wie sich Donald Trump heute äussert – das wäre für jemanden mit seiner Verantwortung vor kurzem noch undenkbar gewesen.» Deshalb seien die Politik, aber auch die Medien in der Pflicht, wieder wachsamer zu werden und auch sprachlich entschieden für demokratische Prinzipien einzutreten – eine Verantwortung, der viele in den vergangenen Jahren viel zu wenig nachgekommen seien. So seien rechtsextrem geprägte Argumentationen und entmenschlichende Metaphern wie «Flüchtlingsflut» in den vergangenen Jahren manchmal zu wenig reflektiert aufgenommen worden, kritisiert Hohenstein.

Demokratische Prinzipien mit Sprache verteidigen

«Es ist eine Illusion zu glauben, dass einmal erreichte demokratische Prinzipien nicht mehr verteidigt werden müssen», sagt Hohenstein. Der Kampf gegen den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen durch Sprache sei nie ein für alle Mal gewonnen. Vieles, was in der Vergangenheit an Rechten für Frauen, Homosexuelle oder ethnische Minderheiten erreicht worden ist, liesse sich erschreckend leicht wieder rückgängig machen. «Es bleibt ein permanentes Seilziehen.»

Dieser Beitrag wurde im Hochschulmagazin ZHAW-Impact Nr. 48 erstveröffentlicht. Danke ZHAW-Impact für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.


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