Boulevardjournalismus lebt von Emotionen. Daten sind das pure Gegenteil. Geht das zusammen? Ein Erfahrungsbericht.
von Simon Huwiler, Datenjournalist & Visual Storyteller beim BLICK und Absolvent Bachelor Kommunikation
Boulevardjournalismus bedeutet Emotionen! Boulevard soll packen, bewegen, angreifen, Spass machen! Das pure Gegenteil davon: Daten. Als Datenjournalist in einem Boulevardmedium fühlt man sich daher auch schon mal wie ein Kamel im Zirkus: In der Manege begeistern unsere Kollegen mit atemraubenden Stunts vom Trapez, stolzen, bis zur Perfektion dressierte Schimmelstuten und feuerbälle-jonglierenden Kunststücken, während unsere Fähigkeit darin besteht, Wasser zu trinken. Riesige, emotionslose Mengen Wasser.
Dass datengetriebener Journalismus zu einem modernen Newsroom dazugehört, wird indes kaum infrage gestellt. Daten sind immer wichtigere journalistische Quellen. Die Fähigkeit, mit diesen Quellen zu sprechen, brauchen Medien heute mehr denn je. Wie aber kann die – oberflächlich betrachtet – langweilige Datenwelt im pulsierenden Nervensystem des Boulevards eingebettet werden?
Daten bleiben Daten, auch im Boulevard
Die Arbeitsweise datenjournalistisch organisierter Teams im Boulevard unterscheidet sich kaum von derjenigen anderer Medien. Daten werden besorgt, erbeten, oder selbst erfasst. Für die Analysen wird spezialisierte Software eingesetzt, häufig direkt mittels datenfreundlichen Programmiersprachen wie «Python» oder «R» bereinigt, ausgewertet und in die gewünschte Form gebracht. Thesen werden statistisch geprüft, Visualisierungen helfen, aus den Daten Erkenntnisse zu gewinnen. Unterschiede zu anderen Medien fallen jedoch besonders bei der Themenwahl und der Darstellungsform auf.
Gerade bei den Darstellungsformen zeigt sich das Potential der Daten im Boulevardjournalismus. Nicht ganz freiwillig, denn die Emotionslosigkeit von Zahlen und Statistiken – ein Graus für jeden Boulevard-Blattmacher – fordern kreativere Wege, Datengeschichten zu erzählen. Drei Erzählformen eignen sich dabei besonders.
Emotionalisierung – Menschen statt Zahlen
Daten alleine sind keine Geschichten. Daten sind der Stoff, aus dem Geschichten sind. Zwar lassen sich Informationen mittels Visualisierungen fassbar machen, bieten aber für eine Boulevardzeitung zu wenig Erzählstoff. Es braucht Menschen!
Menschen ins Zentrum setzten wir bei der Seeanalyse, obwohl – sprichwörtlich – trockene Daten die Grundlage bilden. Am Anfang stand die Frage: Sind unsere Seen der Bevölkerung noch zugänglich oder befindet sich bald alle Ufer in Privatbesitz? Erhebungen dazu gibt es nicht, selbst Gemeinden waren ratlos. Mittels Satellitenbilder, Grundbucheinträgen und Daten von Fitnesstrackern haben wir neun Deutschschweizer Seen in spezialisierter GIS-Software in Kleinstarbeit Meter für Meter kategorisiert.
Zwar zeichneten wir für jeden See eine Visualisierung mit den harten Ergebnissen, räumten aber den menschlichen Aspekten mehr Platz ein. Besitzer von Seeufern und ihr Spannungsverhältnis zu offenem Seezugang wurden porträtiert. Nachzüge wie «Behörden kuschen vor den Reichen» bedienten sich boulevardesker Zuspitzung. Und auch Service – seit jeher ein Teil vom Boulevardjournalismus – boten wir mit den schönsten Seeufer-Wanderungen dank Empfehlungen unserer Leser.
Personalisierte Texte – Sag mir wo du wohnst und ich sag dir, was über dir passiert
Seit der Befreiung des Texts vom Papier lassen sich Geschichten dynamisch und für jeden Leser angepasst erzählen. Durch Angabe des Geschlechts, Alters, Lohnes oder weiteren für die Geschichte relevante Informationen lässt sich so ein Text direkt auf das Leben des Lesers adaptieren. Eingesetzt haben wir diese Technik beim «Gewimmel am Himmel». Die Basis dieser Geschichte: Drei Millionen GPS-Koordinaten von Flugzeugen im Schweizer Luftraum, gesammelt während eines Tages. Der Leser wählt selbst anhand einer Karte, von welchem Ort aus die Geschichte erzählt werden soll. Mit dem Blick zum Himmel gerichtet werden dynamisch die nächstliegenden Flugrouten gezeigt, erklärt, wie der Luftraum organisiert wird und der Himmel über den Köpfen funktioniert – für jeden Leser individuell.
Gamification – Das Spiel mit der Geschichte
Boulevard darf aus starren Gerüsten ausbrechen. Dank dem technologischen Wandel bieten sich hier neue – noch kaum ausgereizte – Möglichkeiten. Gamification, Geschichten mit spielähnlichen Mechanismen zu verknüpfen, ist eine besonders spannende Erzählform. Die einfachste Variante: Quizzes, wie unser Statistikquiz «War früher alles besser?». Einen anderen Weg gingen wir bei der Analyse der Direktzahlungen – jenen Subventionen, welche der Staat und damit jeder Bürger über seine Steuern den Bauern zahlt. Dank unserem Bauernhofsimulator kann so jeder Leser zum Bauern werden und Direktzahlungen sammeln.
Gerade weil von Boulevardmedien nicht dieselbe Seriosität erwartet wird, sind wir bei der Wahl der digitalen Darstellungsform freier. Experimente dürfen und sollen gemacht werden. Die Leser goutieren es mit langer Verweildauer, positiven Rückmeldungen und hohen Klickzahlen. Dann fühlen sich auch Kamele in der Manege wohl.
Über den Autor
Auf Simon Huwilers Pult steht kein Kamel, sondern ein Dinosaurier. Ausgestorben, weil er sich den geänderten Bedingungen nicht anpassen konnte, steht der Dino als Symbol für die Digitalisierung. Mit der Digitalisierung beschäftigt sich der Autor bei seinem früheren Job als Softwareentwickler und Heute im Ressort «Storytelling» beim BLICK als Datenjournalist und Visual Storyteller. Das journalistische Rüstzeug holte er sich an der ZHAW (Abschlussjahr 2016) und mittels Praktika bei der SRF Arena, Aargauer Zeitung Kultur und Spiegel Online.