Social Media ist für Schweizer Politiker:innen längst mehr als ein Schaufenster. Wer es hier schafft, ein verlässliches Netzwerk zu knüpfen und dieses gezielt zu mobilisieren, kann daraus realen Nutzen für den Wahlkampf ziehen. MAS-Absolventin Miriam Hetzel zeigt in ihrer prämierten Abschlussarbeit, was es dazu braucht.
Autorin: Lara Attinger
Es ist der 22. Oktober 2023: Autorin und LGBTQ-Aktivistin Anna Rosenwasser wird für die SP in den Nationalrat gewählt. Nicht nur die Medien und Politikexpert:innen sind überrascht, auch Rosenwasser selbst hat nicht ernsthaft mit dem Sieg gerechnet. Sie braucht einige Tage Bedenkzeit, bevor sie das Mandat annimmt.
Social-Media als Wahlfaktor
«Der Wahlerfolg von Anna Rosenwasser hat deutlich gemacht, dass das Potenzial von Social-Media in der politischen Kommunikation nach wie vor unterschätzt wird», sagt Miriam Hetzel, Absolventin des MAS Communication Management and Leadership. Hetzel arbeitet seit mehreren Jahren im Bereich politischer Kommunikation und ist heute Digital Campaignerin bei economiesuisse. Sie ist überzeugt, dass Rosenwassers Social-Media-Auftritt massgeblich zum Wahlerfolg beigetragen hat.
In ihrer prämierten Abschlussarbeit hat Miriam Hetzel zwölf öffentliche Instagram-Profile amtierender National- und Ständerät:innen analysiert. Darunter auch das Profil von Rosenwasser. Sie wollte herausfinden, wie Politiker:innen Social Media strategisch nutzen können, um Social-Media-Kapital zu akkumulieren. Damit ist die Fähigkeit gemeint, digitale Aufmerksamkeit in belastbare Beziehungen, Vertrauen und im besten Fall in reale Unterstützung umzuwandeln.
Bewertung anhand von vier Kategorien
Die Profile wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse in vier Kategorien bewertet:
- Messages (Kommunikationssignale wie Posting-Frequenz, inhaltlicher Mehrwert und Formatwahl)
- Strategie (Themenfokussierung, Rollenklärung, Wiedererkennungsmerkmale)
- Plattform-Kompetenz (Einsatz algorithmusrelevanter Formate und Trends) sowie
- Connections (Qualität der Beziehungsarbeit und Fähigkeit, digitales Bindungskapital aufzubauen).
Das Raster dient dazu, systematisch sichtbar zu machen, welche Faktoren in der Praxis den Aufbau von Social-Media-Kapital begünstigen oder behindern.
Fünf Erfolgsfaktoren
Die Analyse von Miriam Hetzel zeigt, dass sich die erfolgreichsten Instagram-Profile Schweizer Politiker:innen durch fünf Erfolgsfaktoren auszeichnen:
- Kommunikation als Grundlage
Ohne regelmässige, relevante Kommunikation entsteht kein Kapital. Inhalte sind die Basis für Sichtbarkeit, Interaktion und Reichweite. Wer kontinuierlich postet, sammelt Erfahrungen, lernt aus Resonanzmustern und wird vom Algorithmus sichtbarer. Social Media funktioniert rhythmisch, nicht punktuell. - Strategische Klarheit
Erfolgreiche Profile haben eine klare Themen- und Rollenstrategie. Sie wissen, welche Geschichte sie erzählen, welche Zielgruppen sie ansprechen und welche Narrative sie stärken wollen. Social-Media-Erfolg ist kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis bewusster Priorisierung und Positionierung. - Plattform-Kompetenz
Reichweite entsteht heute durch algorithmische Sichtbarkeit. Erfolgreiche Politikerinnen und Politiker verstehen die Funktionsweise der Plattform, setzen aktuelle Formate gezielt ein und passen ihre Inhalte laufend an neue Entwicklungen an. Plattform-Kompetenz bedeutet, Trends strategisch zu nutzen, ohne die eigene Authentizität zu verlieren. - Beziehungsarbeit und Resonanz
Social Media ist keine Einwegkommunikation. Soziales Kapital entsteht durch Dialog, Vertrauen und Interaktion. Erfolgreiche Profile pflegen ihre Community, reagieren auf Kommentare und fördern Austausch auf Augenhöhe. Entscheidend ist nicht allein die Anzahl der Follower, sondern die Qualität der Verbindungen. - Zeit und Transformation
Kapitalbildung ist ein langfristiger Prozess. Wer nur während Wahlkampagnen aktiv ist, verschenkt Potenzial. Erst über Zeit
Anna Rosenwasser geht neben diesen fünf Erfolgsfaktoren noch einen Schritt weiter: Sie überführt ihr digitales Bindungskapital gezielt in reale Begegnungen. Ihre Lesetouren wirken als Brücke zwischen Online-Community und physischer Öffentlichkeit. Menschen, die ihr auf Social Media folgen, begegnen ihr dort persönlich, was die emotionale Bindung vertieft und politische Aktivierung ermöglicht. «Sie gibt der Community das Gefühl: Sie ist eine von uns», ergänzt Miriam Hetzel.

Warum Social-Media-Präsenz heute so wichtig ist
Social Media dient heute längst nicht mehr nur der Unterhaltung, sondern ist für viele zur primären Informationsquelle geworden. Das gerade erschienene Jahrbuch Qualität der Medien 2025 des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich belegt diese Entwicklung eindrücklich. Fast die Hälfte der Schweizer Bevölkerung (46,4 Prozent) zählt inzwischen zu den sogenannten «News-Deprivierten», also Menschen, die kaum noch journalistische Medien nutzen und sich hauptsächlich über Social Media informieren.
«Gerade deshalb ist es wichtig, dass politische Akteurinnen und Akteure dort aktiv und strategisch präsent sind, wo öffentliche Meinungsbildung heute stattfindet», sagt Miriam Hetzel. Auf Plattformen wie Instagram können sie Themen setzen, Sichtbarkeit schaffen und in Dialog mit Bürger/-innen treten. «So entstehen erste Kontaktpunkte zu Menschen, die über klassische Kanäle kaum mehr erreicht werden.» Gerade für Politiker:innen, die jüngere Generationen ansprechen oder mobilisieren wollen, könne Social Media deshalb entscheidend sein.
Social-Media ist kein reines Massenmedium
«Die Herausforderung liegt darin, Social Media nicht nur als Massenmedium, sondern zugleich als Beziehungskanal zu begreifen. Wer die dialogische Dimension nicht nutzt, verschenkt das Potenzial, soziales Kapital aufzubauen. Erfolgreiche Profile verstehen Social Media deshalb als eigenständigen Raum politischer Kommunikation, vergleichbar mit der Medienarbeit, die ebenfalls nach eigenen Gesetzen funktioniert», fasst Miriam Hetzel zusammen.
Likes sind kein Selbstzweck. Wirkung entsteht erst, wenn aus Aufmerksamkeit Anschlussfähigkeit wird. Erfolg im Wahlkampf ist deshalb weniger eine Frage der Lautstärke, als eine der Bindungskraft.

Über Miriam Hetzel:

Miriam Hetzel arbeitet als Digital Campaignerin beim Wirtschaftsverband economiesuisse, wo sie Social Media strategisch in die nationale Kampagnenarbeit integriert. Sie interessiert sich besonders dafür, wie politische Kommunikation Wirkung entfalten kann – strategisch, glaubwürdig und menschlich. Aktuell absolviert sie den DAS Applied Diplomacy & Geopolitics. 2025 hat sie den MAS Communication Management and Leadership am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft abgeschlossen. Ihre Abschlussarbeit «Wie können Politiker:innen Social Media strategisch zur Akkumulation von sozialem Kapital nutzen? (am Beispiel Instagram)» wurde ausgezeichnet.