Politik für alle: Sind unsere Volksabstimmungen barrierefrei?

«Nichts über uns ohne uns» – dieser Leitsatz aus der Behindertenrechtsbewegung fordert, dass Menschen mit Behinderungen an öffentlichen Entscheidungsprozessen mitwirken können. Das bedeutet auch, dass Informationen zu den eidgenössischen Volksabstimmungen barrierefrei zugänglich sein müssen. Denn nur mit angemessenen Abstimmungsinformationen ist es Menschen mit Behinderungen möglich, sich selbstbestimmt und aktiv am politischen Geschehen in der Schweiz zu beteiligen. Was das mit Angewandter Sprache zu tun hat? Eine ganze Menge! Was genau, das möchten wir euch anhand unserer Bachelorarbeit zeigen.

Autorinnen: Sara Schellenberg und Rahel Schneebeli

Was bedeutet überhaupt Barrierefreiheit?

Barrieren finden sich in verschiedenen Bereichen des Lebens, zum Beispiel wenn Verkehrsmittel oder Gebäude für Menschen mit Behinderungen nicht oder nur schwer zugänglich sind. Aber auch in der Kommunikation gibt es Barrieren. So haben beispielsweise Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen nicht immer Zugang zu allgemeinsprachlichen oder fachsprachlichen Texten, da diese zu anspruchsvoll sein können. Um solche Kommunikationsbarrieren zu überwinden, gibt es die sogenannte Leichte Sprache – eine stark vereinfachte Variante des Deutschen. Die sprachliche und optische Gestaltung solcher Texte orientiert sich an klar definierten Regeln. Ein paar Beispiele für solche Regeln sind:

  • Kurze Sätze mit einer einfachen Struktur bauen
  • Einfache Wörter wählen und schwierige Wörter oder Fachbegriffe erklären
  • Konjunktiv, Genitiv, Passiv, Negationen, Synonyme und Metaphern vermeiden
  • Hohe Zahlen und Prozentzahlen vermeiden oder durch relative Angaben ersetzen
  • Bilder unterstützend einsetzen

Auf diese Weise können Texte so vereinfacht werden, dass sie unter anderem für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, Menschen mit Leseschwächen oder auch für Menschen mit geringen Deutschkenntnissen zugänglich sind.

Leichte Sprache? Oder doch nur «einfach verständlich»?

In den letzten Jahren hat die Leichte Sprache auch in der Schweiz immer mehr an Bekanntheit gewonnen und ist unter anderem auch in der öffentlichen Kommunikation des Bundes angelangt. Ausgewählte Inhalte können über die Webseite des Bundes bereits in Leichter Sprache abgerufen werden. Was bislang jedoch fehlt, sind verständliche Abstimmungsinformationen für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Aus diesem Grund wurden bereits Stimmen aus dem Nationalrat laut, die genau das fordern. Der Bundesrat lehnte diese Motionen jedoch ab. Seine Begründung: Die Abstimmungsinformationen seien bereits in einer «einfach verständlichen Sprache» formuliert. Ausserdem stelle der Bund zu jeder Abstimmung Erklärvideos zur Verfügung, die auch für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen geeignet seien. Tatsächlich? Das wollten wir genauer wissen.

Die Methodik: Schritt für Schritt

Zunächst mussten wir unseren konkreten Untersuchungsgegenstand bestimmen. Dabei war uns wichtig, ein Erklärvideo zu einer Abstimmungsvorlage zu untersuchen, die aktuell ist und alle Schweizer Bürger:innen direkt betrifft. Deshalb haben wir uns für das Erklärvideo zur «Initiative für eine 13. AHV-Rente» entschieden. Zweck unserer Bachelorarbeit war es, herauszufinden, ob das Video tatsächlich auch für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen verständlich ist. Um dieser Frage nachzugehen, haben wir zwei verschiedene methodische Schritte angewendet:

  1. Analyse der sprachlichen und visuellen Videoinhalte: Anhand einer umfassenden Analyse konnten wir mögliche Verständnisbarrieren lokalisieren.
  2. Rezeptionstest: Im zweiten Schritt haben wir untersucht, wie sich diese potenziellen Verständnisbarrieren auf Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen auswirken.

Bevor wir mit der Analyse starten konnten, mussten wir das gesamte Video transkribieren. Und zwar nicht nur den Text aus dem Voiceover, sondern auch die einzelnen Bilder für die Bildanalyse. Das Tool MAXQDA Analytics Pro hat uns diese Arbeit erleichtert.

Standbild aus dem Erklärvideo «Initiative für eine 13. AHV-Rente»

Die Analyse: wie wir Text und Bild auf Herz und Nieren prüften

Bei der Text- und Bildanalyse orientierten wir uns an den Regelwerken der Organisationen Inclusion Europe und Netzwerk Leichte Sprache – beide haben konkrete Regeln formuliert, die man beim Schreiben von Texten in Leichter Sprache beachten sollte. Da die Regelwerke aber nicht wissenschaftlich fundiert sind, zogen wir auch die ausführlicheren und forschungsbasierten Werke der Sprachwissenschaftlerinnen Ursula Bredel und Christiane Maaß hinzu. Anhand dieser Analyse konnten wir feststellen, welche der wichtigsten Stellen im Video für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen besonders schwierig sein könnten. Dies wiederum half uns, Verständnisfragen für den Rezeptionstest zu formulieren.

Der Rezeptionstest: «Nichts über uns ohne uns» gilt auch für die Forschung

Um zu untersuchen, ob das Erklärvideo für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen verständlich ist, war für uns von Anfang an klar, dass wir dazu Personen aus der Zielgruppe miteinbeziehen müssen. Viele Übersetzungsbüros für Leichte-Sprache-Texte arbeiten mit sogenannten Prüfgruppen zusammen. Das sind Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die zusammen mit einer Fachperson Leichte-Sprache-Texte auf ihre Verständlichkeit untersuchen. Für unseren Rezeptionstest hatten wir das grosse Glück, mit einer solchen Prüfgruppe zusammenarbeiten zu können. Dazu zeigten wir den drei Prüfpersonen das Video, worauf sie gemeinsam mit der begleitenden Fachperson die vorbereiteten Fragen diskutierten – ein spannender Prozess, bei dem wir live dabei sein durften.

Die Ergebnisse: ernüchternd und erfreulich zugleich

Nachdem wir auch das Gespräch aus dem Rezeptionstest transkribiert hatten, konnten wir die Aussagen der Prüfgruppe mit den Analyseergebnissen vergleichen. Dabei bestätigte sich unsere Vermutung, dass das untersuchte Erklärvideo für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen schwierig zu verstehen sein könnte.

Das zeigte sich unter anderem in folgenden Punkten:

  • Es werden viele schwierige Wörter wie Finanzierungsbedürfnisse oder Existenzbedarf verwendet, die nicht im Wortschatz der Zielgruppe erwartet werden können.
  • Fachwörter wie Reformen, Initiativkomitee oder Ergänzungsleistungen werden im Video nicht erklärt. Nicht alle Prüfpersonen hatten das nötige Vorwissen, um diese Wörter und somit den Zusammenhang zu verstehen.
  • Viele Sätze beinhalten Aussagen in indirekter Rede und somit Verben im Konjunktiv. Das kann für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sehr anspruchsvoll sein.
  • Es werden viele hohe Zahlen genannt. Diese in ein Verhältnis zu setzen und richtig zu interpretieren, fiel der Prüfgruppe nicht immer leicht.
  • Die Informationsdichte ist sowohl in den Bildern wie auch im Audio sehr hoch. Das heisst, dass die Betrachter:innen viele Informationen über verschiedene Sinneskanäle aufnehmen und verarbeiten müssen. Im Rezeptionstest zeigte sich, dass dies schnell zu einer Überforderung führen kann.
  • Die vielen Bildelemente lenken von der Hauptinformation ab und rücken in einigen Fällen Nebensächliches in den Fokus. Das könnte mit einer Reduzierung auf das Wesentliche verhindert werden.
  • Die einzelnen Bilder werden teilweise zu kurz angezeigt, um alle Informationen zu erfassen.

Diese Erkenntnisse haben bei uns gemischte Gefühle hinterlassen. Einerseits haben wir uns darüber gefreut, dass unsere Studie so ergiebig war. Wir waren auch begeistert davon, wie viel die Proband:innen bereits zum Thema wussten. Alle drei Prüfer:innen haben in ihrem Leben bereits mindestens einmal abgestimmt, was uns gezeigt hat, dass ein Interesse am politischen Geschehen sehr wohl vorhanden ist.

Andererseits veranschaulichen die Ergebnisse, dass die Abstimmungsinformationen eben noch nicht für alle Menschen gleich zugänglich sind. Besonders bei Volksabstimmungen zu Themen wie der Altersvorsorge, die uns alle betreffen, müssten alle Menschen Zugang zu den entsprechenden Informationen haben, um eine faktenbasierte und persönliche Entscheidung treffen zu können. Unsere Arbeit hat uns gezeigt, dass der Bund in dieser Hinsicht handeln muss, wenn wir eine inklusive Gesellschaft anstreben wollen. Und dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen unbedingt bereits bei der Gestaltung von angemessenen und barrierefreien Abstimmungsinformationen einen festen Platz am Tisch haben müssen.

Der Prozess: von Höhen und Hürden

Da wir seit Beginn des Bachelorstudiums immer wieder Gruppenarbeiten zusammen schreiben durften, waren wir bereits ein eingespieltes Team. Und weil wir uns beide sehr für die Themen barrierefreie Kommunikation und Inklusion interessieren, bereitete uns die Zusammenarbeit umso mehr Freude.

Unsere Arbeit lief jedoch nicht immer nur reibungslos. Zunächst wollten wir nämlich einen schriftlichen Fragebogen mit Multiple-Choice-Fragen erstellen, um die Verständlichkeit des Erklärvideos zu messen. Unsere Betreuerinnen und eine externe Leichte-Sprache-Expertin rieten uns davon jedoch ab und ermutigten uns, die Befragung mündlich durchzuführen. Zum Glück! Denn andersrum wären unsere Ergebnisse sicherlich nicht so aussagekräftig geworden. Der mündliche Rezeptionstest bot den Prüfpersonen schlussendlich den bestmöglichen Rahmen, um ungezwungen und frisch von der Leber weg zu reden. Ausserdem hatten wir so die Möglichkeit, einen Teil unserer Arbeit im direkten Austausch mit der Zielgruppe durchzuführen. Das war für uns enorm lehrreich und hat uns weiter darin bestärkt, dass die Barrierefreiheit gerade auch in der politischen Kommunikation von immenser Wichtigkeit ist. Können Menschen mit Behinderungen nicht aktiv mitbestimmen, werden keine nachhaltigen Veränderungen folgen, die zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen.

Während der Arbeit wurde uns auch immer wieder bewusst, wie jung das Thema der Leichten Sprache noch ist und wie viel dazu noch geforscht werden muss. Gerade in Kombination mit audiovisuellen Medien wurde die Leichte Sprache bisher kaum erforscht. Wie gut, dass sich die ZHAW im Forschungsgebiet der Angewandten Linguistik mit diesem wichtigen Thema befasst! Wir hoffen, dass wir mit unserer Bachelorarbeit ebenfalls einen kleinen Beitrag zur Forschung und somit zur Förderung der politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen leisten können.

Work in Progress

Weitere Beiträge aus dem Bachelor Mehrsprachige Kommunikation:


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