Spanische Grippe und Pandemien. Die Tonhalle Zürich wurde im November 1918 als Notspital genutzt.

Von der «Spanischen Grippe» bis COVID-19 – weshalb sich die Erforschung vergangener Pandemien lohnt 

Über die «Spanische Grippe» 1918-1920 und «Asiatische Grippe» 1957 weiss heute kaum jemand mehr Bescheid. Da das Wissen über vergangene Pandemien jedoch für künftige Gesundheitsrisiken sehr wertvoll wäre, wollen Forschende der UZH und ZHAW diese Gedächtnislücke schliessen.

Autor: Louis Schäfer

«Alle Veranstaltungen, welche zur Ansammlung zahlreicher Personen am gleichen Ort oder im gleichen Raum führen», werden am 25. Juli durch den Zürcher Regierungsrat per Beschluss verboten. Davon betroffen sind Volksversammlungen, Gottesdienste und Festlichkeiten jeder Art. Der Bischoff von Chur beschwert sich beim Bund, Gastwirte bei der Kantonsregierung. Berufsverbände streiken. 

Das Jahr, in dem wir uns befinden, ist allerdings nicht 2020 und der Krankheitserreger heisst nicht COVID-19: 1918 breitete sich über Europa die «Spanische Grippe» aus. Allein in den Monaten Juni und Juli steckten sich in Zürich mindestens 5’000 Personen mit der fieberhaften Erkrankung an. 39 Personen verloren ihr Leben. Nachdem die Massnahmen im August wieder gelockert worden waren, sorgte eine zweite Welle im Herbst für mindestens 75’000 Kranke und 140 Tote. 

Parallelen zur Coronapandemie können leicht gezogen werden. In beiden Fällen, so scheint es, wurde das Risiko einer zweiten Welle unterschätzt. 

Die Katastrophen-Gedächtnislücke der Schweiz

Die «Spanische Grippe» gilt in der Schweiz immer noch als die schlimmste demographische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Nach ihr verursachte kein Influenzavirus mehr eine derart hohe Sterblichkeit: Die «Asiatische Grippe» (1957), die «Hongkong Grippe» (1968) und die «Russische Grippe» (1977) verliefen relativ glimpflich. Dasselbe gilt für «Sars» (2003) und die «Schweinegrippe (2009)».

Die acht Pandemien in der Schweiz seit 1880 und ihr Einfluss auf die Sterblichkeit. Forschende der UZH und ZHAW untersuchen vergangene Pandemien, um die Schweizer Gedächtnislücke zu schliessen.

Die acht Pandemien in der Schweiz seit 1880 und ihr Einfluss auf die Sterblichkeit.
Grafiken: A) Offiziell gemeldete Todesfälle pro 100,000 Einwohner aufgrund von Grippe/Influenza sowie COVID-19; B) Jährliche Übersterblichkeit (alle Todesursachen) in Prozent (rot=Übersterblichkeit, blau=Untersterblichkeit). Pandemien: A) «Russische Grippe» ca. 1889-1894; B) «Spanische Grippe» ca. 1918-1920; C) «Asiatische Grippe» 1957, D) «Hong Kong Grippe» ca. 1968-1970; E) «Russische Grippe» 1977; F) SARS 2003; G) «Schweinegrippe» 2009; H) «COVID-19» 2020-2022). 
Grafik: Kaspar Staub, UZH

«Da die Schweiz seit 1920 von schweren Pandemien verschont blieb, haben Behörden und Bevölkerung verlernt, wie mit Gesundheitsrisiken umzugehen ist», sagt Kaspar Staub vom Institut für Evolutionäre Medizin (UZH). Er attestiert der Schweiz eine Katastrophen-Gedächtnislücke. «Wir möchten diese Lücke füllen, indem wir vergangene Pandemien aufbereiten, Daten zur Verfügung stellen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen.» 

Bereits im Projekt LEAD, gefördert von der DIZH, befassten sich er und Forschende der UZH und ZHAW mit dieser Aufgabe. Sie haben Daten zur Sterblichkeit während verschiedener Pandemien in der Schweiz digitalisiert und auf ihrer Projektwebseite öffentlich zugänglich gemacht. Mit diesen Daten wurden auch erste Data Stories geschrieben, welche die historischen Pandemien anschaulich erklären. 

Eine Brücke zwischen Forschung und Politik 

Im Folgeprojekt Bridging the gap sollen nun die Forschungsergebnisse an Politik, Behörden und weitere relevante Akteure vermittelt werden. Das Wissenschaftskommunikationsprojekt startete im September 2023 und wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert. Auch diesmal spielen Data Stories eine wichtige Rolle.

«Wir wollen die Data Stories mit Aussagen von Zeitzeugen oder deren Nachkommen ergänzen», sagt Wibke Weber vom IAM (ZHAW). In einem ersten Schritt gehe es darum, Interviewpartner zu finden, die etwas über die «Spanische Grippe» und «Asiatischen Grippe» erzählen können (siehe Aufruf am Schluss). «Durch die Verknüpfung von Daten und Interviewaussagen kann die Pandemiegeschichte noch lebendiger gemacht werden.» 

Ein weiterer Projektschwerpunkt betrifft Workshops, an denen die Forschungsergebnisse gemeinsam mit Stakeholdern aus Behörden und Gesundheitswesen diskutiert werden sollen. «Es geht darum, die Erkenntnisse aus der Forschung an die Leute heranzutragen, welche in einer Gesundheitskrise wichtige Entscheide fällen und umsetzen», sagt Kaspar Staub. «Zusätzlich zu den Workshops planen wir auch eine grössere öffentliche Veranstaltung, idealerweise in der Tonhalle Zürich.» 

Der Ort ist nicht zufällig gewählt: Im Jahr 1918 wurde die Tonhalle während der «Spanischen Grippe» zum Notfallspital umfunktioniert, als Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenzen stiessen (siehe Titelbild).

Wir suchen Zeitzeugen

Um mehr zu erfahren über historische Pandemien, suchen wir Zeitzeugen oder deren Nachkommen, die uns etwas über die “Spanische Grippe” (1918-1920) und/oder “Asiatische Grippe” (1957) erzählen können. Geplant sind Interviews, die als Videos oder Audio-Aufnahmen aufgezeichnet und mit Einverständnis der Interviewpersonen auf unserer Webseite veröffentlicht werden. Informationen aus Familientagebüchern, Geschichten oder alten Briefen sind ebenfalls willkommen.

Melden Sie sich und helfen Sie mit, die Gedächtnislücke zu vergangenen Pandemien zu schliessen. 

Kontakt: PD Dr. Kaspar Staub, kaspar.staub@iem.uzh.ch, +41 44 635 05 13

Weitere Informationen unter: www.leaddata.ch


Quelle des Titelbilds: Schweizerisches Nationalmuseum, Inventarnummer LM-102737.46.


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