Vor wenigen Tagen wurde wieder gewählt. Nicht etwa Politiker, sondern Wörter. Beim «Wort des Jahres Schweiz» werden jährlich in allen vier Landessprachen die drei Wörter gewählt, die den aktuellen Diskurs in der Schweiz abbilden. In der deutschsprachigen Jury war diesmal auch die 31-jährige Masterstudentin Julia Fanger. In diesem Blogbeitrag gewährt sie Einblicke hinter die Kulissen der Jury und erklärt, warum das «Wort des Jahres Schweiz 2023» den Nerv der Zeit trifft und welchen Bezug Anglizismen zur Schweiz haben.
Autorin: Julia Fanger, Studentin im Master Angewandte Linguistik, Vertiefung Fachübersetzen
2 Stunden entscheiden über 365 Tage
Die deutschsprachige Jury ist vergangenen Samstag für genau zwei Stunden im Radiostudio in Zürich zusammengekommen, um eine Liste von zuvor gesammelten Wortkandidaten hinter verschlossener Tür zu diskutieren und über das «Wort des Jahres Schweiz 2023» abzustimmen. Nach den zwei Stunden musste ein Entscheid gefallen sein – die Tür ging auf und die Juryleiterin Marlies Whitehouse gab die drei Wörter bekannt.
Interessant ist, dass dieses Verfahren genau gleichzeitig in vier Landesteilen stattfindet – örtlich getrennt, um jeglichen Einfluss der italienisch-, rätoromanisch-, französisch- und deutschsprachigen Jury aufeinander zu verhindern. Die Juryräume waren bis zur Abgabe der Entscheidung vom Rest der Welt abgeschnitten, die Liste der Wortkandidaten zuvor ein gut gehütetes Geheimnis. Doch wie genau läuft so eine Jurysitzung ab? In diesem Blogbeitrag gebe ich einen Einblick, wie ich die Diskussion in der Deutschschweizer Jury erlebt habe.
Von 50 Wörtern zu drei Wörtern des Jahres
Zuallererst wurde aus der knapp 50 Wörter langen Liste aussortiert. Zu dem Zeitpunkt ging es noch zügig vorwärts, denn die zehn Jurymitglieder konnten Stimmen abgeben und nur diejenigen Wörter, die 0 von 10 Stimmen bekamen, wurden aussortiert. Dabei handelte es sich um sehr allgemeine Wörter wie Inflation. Übrig blieb danach rund die Hälfte der anfänglichen Liste. Bereits in diesem anfänglichen Prozess zeichnete sich ein klarer Favorit ab: Monsterbank. Es war das einzige Wort, das beinahe alle Jurymitglieder von Anfang an beibehalten wollten. Das Wort wurde aus verschiedenen Gründen auf Platz 1 gewählt, wohl der wichtigste: Es ist eine Neuschöpfung. Das Wort ist in der Schweiz, durch eine Gegebenheit in der Schweiz, im Jahr 2023 entstanden. Semantisch gesehen ist der erste Wortteil Monster besonders interessant, denn er verkörpert alle Gefühle, die einem rund um die diesjährige Bankenfusion hochkommen – positive wie auch negative Konnotationen: stark, gross, erfolgreich, aber auch gefährlich, beängstigend, schwer handhabbar. Aussagekräftiger als Monsterbank kann ein einziges Wort kaum sein.
Auch das Thema für den zweiten Platz war schnell klar. Die Jury war sich einig, dass das Thema Künstliche Intelligenz sich ganz stark – pausenlos seit Januar – durch das Jahr 2023 gezogen hat bzw. noch immer zieht. Genau ab Januar 2023 gab es einen markanten Anstieg der drei Ausdrücke Chatbot, Künstliche Intelligenz und dessen Kürzel KI. Den markantesten Anstieg in der Schweizer Mediensammlung Swiss-AL weist dabei der Begriff Chatbot auf. Das Wort wurde doppelt so oft verwendet wie noch letztes Jahr. Als Chat-Roboter steht das Wort gleichermassen für KI.
Die ersten zwei Wörter standen nun fest – doch jetzt wurde es knifflig. Es folgte eine lange, teils hitzige Diskussion zu allzu vielen «schönen» Wörtern.
Warum wurden Publikumslieblinge nicht gewählt?
Viele mögen denken: «Warum wurde mein Wort nicht gewählt?» Fach- bzw. Arbeitskräftemangel wurden mehrmals vom SRF-Publikum vorgeschlagen. Es sind zwar sehr aktuelle Themen, doch bei genauerem Hinschauen sieht man, dass es Wiederkehrer sind. Klimakleber erschien inhaltlich und sprachlich attraktiv – es ist eine Alliteration (gleicher Anfangsbuchstabe aufeinanderfolgender Wörter). Doch das Klimathema war letztes Jahr grösser, Klimakleber wurde dieses Jahr weniger oft verwendet. Ein weiteres Beispiel ist mein persönlicher Favorit Prämienschock. Schnell musste ich mich davon verabschieden, denn es wurde klar, dass es auch schon letztes Jahr einen Schock gab. Zwar war der Schock dieses Jahr gross, doch die Krankenkassenprämien sind ausnahmslos jedes Jahr im Herbst ein grosses Thema. Ein weiteres jüngstes Ereignis ist der Rechtsrutsch. Auch hier ist die Problematik, dass das Wort zwar jetzt gerade sehr aktuell ist (die Wahlen waren ja erst letzten Monat), doch man verwendet das Wort an sich schon seit geraumer Zeit. Das Wort gab es schon im 20. Jahrhundert. Bei vielen politischen Verschiebungen – egal ob im In- oder Ausland – gibt es immer mal wieder Rechtsrutsche. Das ist nichts Neues.
Während der Diskussion um Rechtsrutsch kam jedoch auch das zuvor nicht auf der Liste stehende Wort Rechtsrütschli auf. Das Wort ist aus schweizerischer Sicht schon nur wegen der typischen Verniedlichung -li sprachlich interessant. Doch kennt die Gesellschaft das Wort auch wirklich? Oder wollte die geteilte Leidenschaft für Sprache in der Jury hier unsere Entscheidung beeinflussen? Als Jury muss man äusserst vorsichtig sein, die spontane subjektive Meinung nicht zu sehr einfliessen zu lassen. Zur ausschlaggebenden Entscheidung führte eine kurze Recherche. Das Ergebnis: nur rund 500-mal wurde das Wort bisher insgesamt verwendet. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht einfach nicht vertretbar. Das Wort ist eben doch nicht in aller Munde. Aufgrund meines persönlichen Interesses an dem Wort habe ich heute doch noch meinen Bekanntenkreis gefragt, was sie denn dazu denken – und die Entscheidung der Jury hat sich als richtig bestätigt, denn viele konnten das Wort nicht sofort einordnen. Sie hatten das journalistische Wortspiel schlicht nicht wahrgenommen. Wenn das Wort jetzt schon bei vielen in Vergessenheit geraten bzw. gar nie angekommen ist, so glaube ich kaum, dass die Bevölkerung dieses Wörtli in ein bis zwei Jahren noch korrekt zuordnen könnte. So gerne ich als Sprach-Nerd meinen Hut vor dem oder der Journalist:in ziehe, der/die das Wort in Verbindung mit der Wahlkorrektur erstmals verwendete, so konnte und sollte es nicht reichen für das «Wort des Jahres 2023».
Entscheid um Platz 3 in letzter Sekunde
Und dann waren es plötzlich nur noch zwei: Endlos-Sommer und Ghosting. Als interkulturelles Jurymitglied, das sich persönlich und beruflich seit vielen Jahren neben meiner Deutschschweizer Heimat auch stark im englischen Sprachraum bewegt, hatte ich mich anfangs vehement gegen das Wort Ghosting gewehrt – und zwar nicht etwa, weil es ein Anglizismus ist, sondern vielmehr, weil das Wort die Schweiz aus meiner Sicht schon vor mehreren Jahren erreicht hat und für mich persönlich bereits zum festen Repertoire gehört. Ich sah das «Neue» (noch) nicht. Doch wozu ist eine Jury da?
Richtig: Man bringt das Wissen von verschiedenen Fachleuten zusammen und gleicht es ab. Denn es gibt tatsächlich etwas Neues am Wort Ghosting: Es hat eine Veränderung im Sprachgebrauch stattgefunden. Während das Wort in der Vergangenheit eher als Jugendwort und beim Dating galt, so wird es jetzt quer durch die Generationen verwendet und damit auch vermehrt im Jobdiskurs, wie ein markanter Anstieg der Wortverwendung im Schweizer Korpus Swiss-AL belegt. Im Gegensatz dazu wurde Endlos-Sommer – so schön es als Wortzusammensetzung auch klingen mag – eigentlich von fast niemandem verwendet. Nach langem Debattieren und Faktensuchen ging also der dritte Platz des «Wort des Jahres Schweiz 2023» an Ghosting – und dies in letzter Sekunde. Es klopfte bereits an der Tür, als die Juryleiterin den dritten Platz schriftlich festhielt.
«Wort des Jahres» trifft den Nerv der Zeit
Trotz facettenreicher Diskussionen, fundierten Entscheidungen und einem fairen Schlussvoting in der deutschsprachigen Jury zum «Wort des Jahres Schweiz 2023» gab es einige negative Äusserungen der Aussenwelt zu den zwei Anglizismen und ich erwische mich manchmal beim Grübeln: Hätte ich vor der Jurydiskussion persönlich auch das Wort Ghosting gewählt? Nein. Tut es etwas zur Sache? Nein! Wir haben als Jury aus zehn Sprachprofis mit dem Ziel agiert, den reellen Sprachgebrauch der Schweiz zeitgemäss zu repräsentieren – und nicht die persönliche Vorliebe einer Einzelperson. Oder wie es Daniel Perrin, Direktor Departement Angewandte Linguistik, einst sagte: «Das ‹Wort des Jahres› muss nicht allen gefallen, aber es muss einen Nerv treffen.»
Die drei Wörter treffen nicht nur den Nerv von Kritikern, sondern – viel wichtiger – sie treffen den Nerv der Zeit. Wer behauptet, der Schweiz-Bezug fehlt, hat nicht richtig hingehört. Auch wenn wir Scheuklappen aufsetzen, so sind Anglizismen trotzdem weiterhin Teil unseres Alltags.
Anglizismen in der Schweiz
Anglizismen sind so beliebt wie unbeliebt in der Schweiz. Jeder verwendet sie täglich, trotzdem äussern sich viele aktiv gegen sie. Man könnte fast sagen, die zwei diesjährigen Anglizismen haben einen Mini-Shitstorm ausgelöst. Doch bereits beim «Wort des Jahres Schweiz 2017» wurden zwei Anglizismen gewählt: #metoo und Influencer. Damals wie heute führen Anglizismen zu erhitzten Gemütern. Einerseits verstehe ich, dass man lieber schöne Dialektwörter vertreten möchte. Anderseits finde ich, irgendwann muss man einfach damit leben können, dass sich unsere Sprache weiterentwickelt und die Gesellschaft Jahr für Jahr mehr coole Wörter aus dem Englischen übernimmt. Auch wenn es schon 2017 Kritik zu den zwei Anglizismen gab, so repräsentieren diese am heutigen Tag trotzdem deutlich den Beginn von langanhaltenden Trendthemen. Man sieht die Wörter von damals und beim Sinnieren kommt ein Aha-Effekt: «Aha, das war da vor sechs Jahren» oder «Aha, das hat im 2017 angefangen.» Wenn ich so über die Wörter der vergangenen Jahre schweife, bin ich mehr und mehr davon überzeugt, dass auch die drei diesjährigen Wörter Monsterbank, Chatbot und Ghosting beim Sinnieren in Zukunft einen inhaltsreichen Aha-Effekt erzielen. Und genau darum geht es doch beim «Wort des Jahres Schweiz».
Mehr über das Wort des Jahres 2023 erfährst du hier: Link