Er prägt die öffentliche Wahrnehmung rund um den Corona-Virus wie kein anderes Berufsfeld: der Journalismus. Doch wo liegen die Grenzen des Journalismus und wie gut macht er seinen Job während dieser Krisenzeit? Ein Interview mit Vinzenz Wyss, Professor für Journalistik, am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW.
Von Susanna Spörri, Kommunikationsverantwortliche IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft.
Vinzenz Wyss, inwiefern ist der Corona-Virus eine Chance für den Journalismus, seine Leistungsfähigkeit in Krisenzeiten besonders hervorzuheben, insbesondere im Vergleich zu Social Media und Fake News?
Die Corona-Krise zeigt, wie wichtig glaubwürdige Medien in Zeiten sind, in denen grosse Unsicherheit herrscht. Weil sich die Entwicklung und Verbreitung des Virus stündlich verändert, gibt es eine starke Konzentration auf online verfügbare Medien. Es gibt noch keine Studien zur Medienberichterstattung oder zur Nutzung; ich beobachte aber, dass sich Menschen, die nach Informationen und Einordnung suchen, stärker vertrauenswürdigen Medien zuwenden und auch auf sozialen Plattformen besonders häufig Medienbeiträge teilen. Die Medien berichten gemäss meiner Beobachtung bis jetzt weitgehend im Einklang mit der sehr guten Kommunikation des Bundes, die ja auch direkt etwa über Live-Stream oder Radio die Bevölkerung erreicht. Beruhigend ist, dass auf Social Media kursierende, offensichtliche Verschwörungstheorien oder skurrile Thesen selbsternannter Experten kaum eine Chance haben, sich gross auszubreiten und so zusätzlich zu verunsichern.
Welche Themen rund um Corona wurden seit Auftreten des Virus besonders häufig in den Schweizer Medien diskutiert und wie lässt sich diese Auswahl erklären?
Zu Beginn der hierzulande wahrgenommenen Corona-Krise haben die Medien meines Erachtens zu stark auf vermeldete Zahlen wie Anzahl Infektionen und Tote oder auf Einzelereignisse wie Hamsterkäufe in irgendeinem Supermarkt reagiert. In einer zweiten Phase standen noch immer konkrete Fragen etwa zur Verfügbarkeit von Testgeräten, Masken oder Spitalbetten im Vordergrund. Die Journalistinnen und Journalisten, von denen ja die wenigsten Wissenschaftsjournalisten sind, haben mehr und mehr sachverständigen Virologen oder Epidemiologien das Mikrophon hingehalten. Obwohl hier also meist Politjournalisten den Job eingesparter Wissenschaftsjournalisten gemacht haben, kann man den Medien in dieser Phase generell ein gutes Zeugnis ausstellen. Sie haben meines Erachtens weder zu stark dramatisiert oder Panik geschürt noch haben sie die vielschichtige Krise heruntergespielt.
«Ich glaube, dass dieser eher sachliche Zugriff tatsächlich auch darauf zurückzuführen ist, dass die weitgehend als kompetent wahrgenommene Kommunikation des BAG stark den Takt und Ton der Journalisten angegeben hat.»
Es war sicher richtig, dass in dieser schwierigen Situation die Journalisten nicht mit vorauseilender Kritik an Behördenentscheiden noch mehr zur Verunsicherung beigetragen haben. Für mich beginnt jetzt aber eine Phase, in der der Journalismus durchaus noch mehr Eigenkompetenz und kritische Haltung zeigen dürfte.
Was vermissen Sie denn in der Berichterstattung, wo sehen Sie Defizite?
Für mich gibt es drei Defizite, denen zum Teil jetzt noch begegnet werden kann. So wurde offensichtlich, dass es zu vielen Journalisten schlicht an statistischem Wissen fehlt. Dieses ist aber notwendig, wenn die Validität von Zahlen zu Infizierten, Toten oder von Ergebnissen der Testmessungen interpretiert werden soll. Hier rächt sich das Wegsparen von Wissenschaftsjournalisten, welche wissenschaftliche Aussagen von Experten auch wissenschaftlich einordnen können. Damit meine ich auch mehr einordnender Kontext, die Thematisierung von Strukturen statt von Einzelfällen. Zum Zweiten wünschte ich mir eine stärkere metakommunikative Thematisierung der Rolle der Medien durch die Medien, die ja nun wirklich auch unter erschwerten Bedingungen ihren Job machen und nicht nur inhaltlich rasch an Grenzen stossen. Ich denke, dass nur ein selbstreflexiver Journalismus ein glaubwürdiger Journalismus ist. In inhaltlicher Hinsicht erwarte ich zum Dritten eine viel kritischere Auseinandersetzung mit dem jetzt zu Recht eingesetzten Notrecht. Wie lange kann der Bundesrat nun ohne parlamentarische Debatte radikale und weitreichende Entscheide fällen? Was bedeutet dies für den demokratischen Prozess, wenn Milizparlamentarier Homeoffice machen und beispielsweise grüne Volksvertreterinnen nur noch zuschauen können, wie darüber entschieden wird, ob und wie Luftfahrtgesellschaften Finanzspritzen erhalten?
Sie beobachten, dass die meisten Medien weitgehend im Einklang mit der Kommunikation des Bundes berichten. Ist das wirklich nur gut zu werten?
Die eher unkritische Berichterstattung der ersten Phase halte ich für angebracht. Es ging ja primär darum, angesichts der Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus in kurzer Zeit einen Kollaps des Gesundheitssystems zu vermeiden. Stimmen von Skeptiker verwirren da nur und tragen in dieser Phase nichts zur Lösung dieses Problems bei. Wir treten nun aber in eine Phase, in der wir von den Medien erwarten können, auch unangenehmen Fragen nachzugehen. Ich denke da beispielsweise an die Frage, inwiefern die Anti-Corona-Massnahmen tatsächlich verhältnismässig sind. Was antwortet man denen, die vermuten, dass die in der Wirtschaft durch die pauschalen Massnahmen angerichteten Schäden längerfristig zu mehr ebenfalls ernsthaft Geschädigten führen als die direkt durch den Virus verursachten Opfer?
Mit Corona rücken Themen wie die «Flüchtlingskrise» in den Hintergrund, obwohl sie immer noch gleich relevant sind. Warum versuchen die Medien nicht stärker, die Themenvielfalt aufrecht zu erhalten? Was braucht es, damit andere Themen nicht vergessen gehen?
Solange die Corona-Krise von der breiten Bevölkerung weiterhin als das Abweichen vom Normalen erlebt wird, bleibt sie in der Öffentlichkeit wie wohl auch im Privaten das Thema Nummer Eins. Es liegt also auf der Hand, dass das Virus die Agenda der Medien noch lange dominieren wird. Aber selbstverständlich müssen uns auch weitere gesellschaftlich relevante Themen beschäftigen und der Journalismus hat die Verantwortung, uns darauf aufmerksam zu machen. Die Kopplung dieser Themen mit der Krise, halte ich als eine mögliche journalistische Strategie. Einige Medien machen das ja auch, indem sie beispielsweise ausgehend von der Corona-Krise danach fragen, wie sich diese auf das Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos auswirkt. Genauso können zum Beispiel wirtschaftlich, ökologisch oder sozial relevante Themen gerahmt und so auf die Agenda gesetzt werden.
Ich finde, zu Beginn der Corona-Krise haben die Medien zu stark auf vermeldete Zahlen wie Anzahl Infektionen und Tote oder auf Einzelereignisse wie Hamsterkäufe in irgendeinem Supermarkt reagiert. Die Berichterstattung für ein solch interessantes Thema viel zu einseitig / langweilig.
Danke für den Kommentar. Das war auch meine Wahrnehmung. Wobei man ja den Medien gegenüber fair bleiben muss: in einer solchen Situation der wahrgenommenen Bedrohung, in der es kein gesichertes Wissen gab, konnte der Journalismus nicht anders, als zu verlautbaren, was zu verlautbaren war. Dazu gehörten eben auch diese zum Teil sinnlosen Zahlen und was daraus gemacht wurde. Spätestens mit dem Ergreifen des Notrechts hätte ich mir aber ein stärkeres Bemühen um kritische Distanz zu den Quellen gewünscht. Diese Distanz kam dann schon, aber meines Erachtens eben etwas spät. Ich habe hier meine Kritik noch ein bisschen nachgebessert: https://www.persoenlich.com/medien/journalisten-durfen-kritik-nicht-dunnhautig-abschmettern
Vinzenz Wyss
Was ich bis heute nicht versteh: Warum publiziert man immer absolute Zahlen von Infizierten??
Es wäre doch wichtiger Anzahl Infizierte im Verhältnis zur Anzahl getesteter zu wissen, oder?